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Baustellenbesichtigung Stuttgart 21

Im Gänsemarsch zu den Kelchstützen

Eine Woche, nachdem sich die Deutsche Bahn (DB) zumindest teilweise vom geplanten Eröffnungstermin des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs im Dezember 2025 verabschiedet hatte, konnten Besucher die Großbaustelle besichtigen. 115.000 Menschen nutzten die Gelegenheit, so viele wie nie zuvor, wie die DB erklärt.

Rund 115.000 Besucher kamen an den Ostertagen, um den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof zu besichtigen auf die S-21-Baustelle.

JürgenSchmidt)

Stuttgart. Ein wenig Enttäuschung ist dem Ehepaar mittleren Alters anzuhören. „Also filigran wirken diese Kelchstützen gar nicht und hell ist es da unten auch nicht“, sagt sie. Die beiden stehen zusammen mit Dutzenden anderen Besuchern auf einer Zwischenebene des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs und blicken in die künftige unterirdische Bahnhofshalle.

Dass der neue Bahnhof aus dieser Perspektive wenig mit dem lichten Bild gemeinsam hat, dass die Computeranimationen des Ingenhoven-Entwurfs vermitteln, wundert indes nicht. Denn von der Plattform zwischen dem komplett entkernten alten Bonatz-Bau und dem neuen Tiefbahnhof blicken die Besucher vor allem auf den Teil, der zu den „Tagen der offenen Baustelle“ gar nicht zugänglich ist. Dort sind Baumaschinen und Baumaterialien gelagert, das spärliche Licht lässt die Kelchstützen gedrungen erscheinen, von der wahren Höhe der Bahnhofshalle ist nichts zu sehen.

Erstmals mehr als 100.000 Besucher

Das ändert sich, wenn man rund 20 Minuten später tatsächlich im neuen Tiefbahnhof steht. Denn so lange brauchen Besucher an diesem Ostersonntagnachmittag, um die geschätzt 250 Meter lange Strecke zurückzulegen. Im Gänsemarsch geht es den ausgeschilderten und abgesperrten Weg entlang, an den Gittertreppen, die von einer Ebene zur nächsten führen, stauen sich die Besucher. Unmut über das Schlange-Stehen ist aber an keiner Stelle zu hören.

Dabei war der Sonntag der Tag, an dem auf der größten Bahnbaustelle Deutschlands am wenigsten Andrang herrschte. Am Karsamstag registrierte der Verein Bahnprojekt Stuttgart-Ulm , der Organisator der Marketingaktion (siehe Kasten) 31.000 Besucher, am Ostersonntag 29.000 und am Ostermontag gar 51.000. Erstmals verzeichnete die Aktion, die 2016 ins Leben gerufen wurde, damit mehr als 100.000 Besucher.

Entsprechend euphorisch fällt die Bewertung der Verantwortlichen aus. Der Zuspruch sei „sensationell gewesen“, lässt sich der Vorsitzende des Vereins Bahnprojekt Stuttgart–Ulm, Bernhard Bauer, in einer Pressemitteilung zum Abschluss zitieren. „Alle freuen sich auf die Inbetriebnahme des neuen Bahnhofs,“ postuliert der ehemalige Amtschef der ehemaligen CDU-Umweltministerin Tanja Gönner. Bauer steht seit knapp vier Jahren an der Spitze des Vereins.

Kritische Stimmen zum Bahnprojekt sind die Ausnahme

Ob sich alle, die sich an diesem Osterwochenende auf der Baustelle umsehen, auf die Eröffnung freuen, ist schwer zu sagen, doch kritische Stimmen hört man kaum. „Hardcore-Gegner hatten wir diesmal nicht da“, sagt ein Bahnmitarbeiter, der im Tiefbahnhof über den Bau der Kelchstützen informiert, aber nicht namentlich zitiert werden will. Die Fragen, die er beantworten muss, drehen sich vor allem um technische und bauliche Details.

Und immer wieder kommt die Frage, ob denn der Zeitplan, nachdem der neue Bahnhof in etwas mehr als eineinhalb Jahren zumindest teilweise in Betrieb gehen soll, eingehalten werden kann. „Wir arbeiten daran und geben uns Mühe“, erwidert der Bahnmitarbeiter.

Wer die S-21-Baustelle derzeit sieht, könnte durchaus Zweifel bekommen, dass die Bauarbeiten im nächsten Jahr tatsächlich abgeschlossen sind. Mit der Verlegung der Bahnschienen wurde zwar an den Rändern der neuen Bahnhofshalle schon begonnen, doch im für Besucher zugänglichen Bereich ist von den Gleisen noch nichts zu sehen. Doch das sei nur eine Sache von wenigen Wochen pro Gleis, beruhigt der Mitarbeiter am Infostand.

„Richtige Großstädte haben einen Kopfbahnhof“

Auch Menschen, die das Großprojekt kritisch sehen, wollen, dass der Bahnhof möglichst bald in Betrieb geht. „Das soll jetzt endlich fertig werden“, sagt Michael Schassberger. Der Stuttgarter erklärt, dass er eigentlich gegen das Projekt war, auch wenn er es ingenieurtechnisch beeindruckend findet. Doch Widerstand gegen das Projekt hält er inzwischen für überflüssig. „Dagegen zu demonstrieren lohnt sich nicht mehr.“

Das sehen die organisierten Gegner des Bahnprojekts ganz anders. Die hatten außerhalb des Bahngeländes versucht, Besuchern ihre Ablehnung an Infoständen plausibel zu machen. Und sie ziehen eine ebenso positive Bilanz, wie der Bahnprojekt-Verein selbst. Die Besucher reagierten „deutlich positiver auf die angebotenen Infos als in den Jahren zuvor“, resümiert das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 am Ostermontag.

Auch auf der Baustelle selbst gibt es Einzelne, die den Bahnhofsneubau in der jetzigen Form ablehnen. Marion Weber gehört dazu. Dabei hat sie das Projekt von Anfang an begleitet, war vor 30 Jahren eine derjenigen, die für die Bürgerbeteiligung ausgewählt wurden, wie sie erzählt. „Es ist wenig übrig von dem, was wir damals geplant und vorgeschlagen haben“, sagt sie. Damals seien beispielsweise viel mehr Grünflächen vorgesehen gewesen als heute.

Ihr Mann, Alf Neustadt, hält von dem neuen Durchgangsbahnhof generell wenig. „Richtige Großstädte haben einen Kopfbahnhof“, erklärt er mit einem Grinsen.

Doch insgesamt überwiegt bei den Besuchern aber ganz klar die Begeisterung für Technik und Architektur. Der Gang durch die neue, zwischen acht und zwölf Metern hohe Bahnhofshalle hat möglicherweise auch das zunächst enttäuschte Paar mit der Gestaltung versöhnt. Auch wenn die meisten Lichtaugen noch abgedeckt und mit Netzen gesichert sind, ließ sich erahnen, wie hell die unterirdische Halle wohl einmal sein wird. Rund zwei Drittel des 450 Meter langen Bahnhofs waren für Besucher auf einem der künftigen Bahnsteige in der Mitte zugänglich.

Besonderheit der Architektur bereits im unfertigen Zustand zu erkennen

Und die Kelchstützen wirken, wenn man sie von unten sieht, tatsächlich filigran. Selbst im noch unfertigen Zustand ist auch für architektonische Laien sichtbar, warum der Entwurf von Christoph Ingenhoven die Jury des Architekturwettbewerbs für den Tiefbahnhof vor fast 30 Jahren überzeugt hat und seinem Büro den ersten Preis zusprach.

Doch statt außergewöhnlicher Architektur, die zudem außerge wöhnliche planerische und bautechnische Lösungen erforderte, hätten manche Besucher lieber mehr schwäbische Sparsamkeit verwirklicht gesehen. „Das mit den Stützen wäre auch einfacher und billiger gegangen“, hört man in der Bahnhofshalle. Auf die immer weiter steigenden Kosten für das Projekt hätten einfachere Säulen allerdings nur sehr begrenzt dämpfend gewirkt. Denn der Bahnhofsneubau selbst macht weniger als ein Siebtel der Gesamtkosten aus, wie Ingenhoven vor Jahren in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Spiegel erklärte.

Zu den technischen Spezialitäten der 28 Ingenhovenschen Kelchstützen gehören die 27 Lichtaugen, die als Kuppeln auf dem inzwischen geschlossenen Bahnhofsdach liegen. Sie sind derzeit entweder mit weißen Planen abgedeckt oder von Zeltdächern überspannt, unter denen an den Konstruktionen aus Glas und Stahl gearbeitet wird.

Lichtaugen werden in der Schwebe montiert

Die hohen Zelte dienen nicht nur dem Wetterschutz. An deren Stahlrohrgestellen sind die Lichtaugen bis zu ihrer Fertigstellung aufgehängt, wie den Besuchern an einem Infostand der Seele-Group aus Neusäß bei Augsburg erläutert wird. Erst wenn das Stahlskelett fertig verschweißt ist und die Glaselemente eingesetzt sind, könne die Konstruktion auf den Betonfundamenten der Glasaugen, also den Kelchstützen, abgesetzt und befestigt werden.

Das Unternehmen, das auf Fassaden aus Glas und Stahl spezialisiert ist, hat den Auftrag für alle 27 Lichtaugen und die Überdachungen der Ein- und Ausgänge des neuen Bahnhofs bekommen. Seele hat bereits mit Hochhausfassaden oder Glaskuben für den Elektronikkonzern Apple von sich reden gemacht. Der Stuttgarter Bahnhof sei aber etwas Besonderes, weil dort Größe und Komplexität aufeinandertreffen, wie Seele zu Beginn der Montagearbeiten im Herbst vergangenen Jahres erklärte.

Und natürlich ist auch Tempo gefragt. Denn wenn die Bahn bei ihrem vor zwei Wochen verkündeten Zeitplan bleiben will und der neue Bahnhof zumindest teilweise im Dezember nächsten Jahres in Betrieb gehen soll, müssen alle Lichtaugen auf ihren Kelchstützen sitzen.

Verein fürs Marketing der Großbaustelle¶

Die „Tage der offenen Baustelle“ für S 21 werden nicht von der Deutschen Bahn als Bauherr, sondern vom Verein Bahnprojekt Stuttgart–Ulm veranstaltet. Er kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit, betreibt unter anderem den Infoturm am Bahnhof. Dem Verein gehören neben dem Staatskonzern und seinen für das Großprojekt fachlich zuständigen Töchtern auch die Projektpartner, also das Land Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt und der Verband Region Stuttgart an. Hinzu kommen als fördernde Mitglieder der Flughafen und die Messe Stuttgart, sowie die Stadt Ulm. Erstmals gab es die Baustellenbesichtigung im Jahr 2016, damals nicht im Frühling, sondern direkt nach dem Jahreswechsel.

Jürgen Schmidt

Redakteur Wirtschaft und Vergabe

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