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Reportage

Kanzlerwahl: Kein Wölkchen am Himmel

In Berlin ist heute etwas geschehen, dass man bislang nur aus anderen Ländern kannte: Ein Kanzlerkandidat wird nicht im ersten Wahlgang gewählt, dann aber im zweiten doch. Unser Reporter aus Berlin, Michael Schwarz, berichtet.

Staatsanzeiger-Redakteur Michael Schwarz berichtet live aus dem Bundestag über die Kanzlerwahl.

Michael Schwarz)

Berlin. Sonne pur – kein Wölkchen trübt den Berliner Himmel. Was könnte es Schöneres geben als eine Kanzlerwahl im Mai? Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Die Gesichter in der CDU/CSU- und in der SPD-Fraktion muss man gesehen haben. Da ist Katja Mast, Abgeordnete aus Pforzheim und in der vergangenen Legislaturperiode rechte Hand von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.

Gestern konnte sie noch strahlen: Da wurde bekannt, dass sie Staatssekretärin wird. Heute sitzt sie am großen Tisch im Fraktionssaal der SPD, der nach dem letzten SPD-Fraktionschef der Weimarer Republik, Otto Wels, benannt ist und auf den die AfD Anspruch erhebt. Reporter-Fragen lässt sie nicht zu. Und ihr Gesicht verrät eine Mischung aus Trauer und Wut.

Ein paar Schritte weiter steht Saskia Esken in ihrem grüngelben Anzug und sagt ein paar Sätze, um gleich noch zu betonen, dass dies nicht der Moment sei, mit der Presse zu reden. Esken hatte sich auf ein Ministeramt gefreut, war dann aber doch leer ausgegangen. Viele Geschichten, die in diesen Tagen zu erzählen sind. Dafür sei die Situation viel zu ernst, sagt sie.

Und dann kommt Lars Klingbeil aus seiner Sitzung mit Jens Spahn, checkt noch ein paar Nachrichten auf dem Handy, und die Tür geht zu. Es herrscht eine wilde Pendeldiplomatie nach der gescheiterten Abstimmung. Wo waren die Abweichler? Wer hat Merz die Unterstützung verweigert? War es die SPD? Oder enttäusche Unionsabgeordnete?

Strobl hat so etwas noch nicht erlebt 

In der CDU-Fraktion ein ähnliches Bild. Auch hier versichern alle, dass sie es nicht gewesen sind. Und das Entsetzen ist ebenfalls mit den Händen zu greifen. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl sagt, er habe so etwas noch nicht erlebt. Strobl war lange Jahre Abgeordneter im Bundestag, Chef der Landesgruppe, ist noch immer gut vernetzt. Alle sind aufgeregt. Kein Wunder, noch kein Kanzler ist im ersten Wahlgang gescheitert.

Auch Gregor Gysi versichert, dass das heute für ihn eine Premiere sei. Er gehört 1991 dem Bundestag an. Seine Linken werden kurz danach einem Fristverzicht zustimmen, ebenso die AfD, sodass um 15.15 Uhr die zweite Wahl stattfinden kann.

Keiner will es gewesen sein

Unterdessen betont jede und jeder Abgeordnete von der geplanten Großen Koalition, der einem über den Weg läuft, dass er es nicht gewesen ist und dass man an die Verantwortung denken muss, die jeder Einzelne für Deutschland hat. Auch Ralf Stegner, der Sozialdemokrat aus Schleswig-Holstein, den man aus Talkshows kennt.

Doch irgendwo müssen sie ja sein, die neun, die nicht abgestimmt haben. Und die neun, die abgestimmt haben, aber nicht für Merz. Immer vorausgesetzt, die Opposition hat geschlossen mit Nein gestimmt, was grünen Chefin Katharina Brantner für ihre Person versichert.

Markus Frohnmaier wiederum, stellvertretender AfD, Fraktionsvorsitzende und Co-Chef des Landesverbands Baden-Württemberg, witzelt: die gesamte Fraktion habe schon gedacht, dass etwas passieren würde, weil Angela Merkel der Wahl beiwohnt. Später sagt Bernd Baumann, der AfD-Fraktionsgeschäftsführer: „Herr Merz, Sie sind gescheitert.“

Am späten Nachmittag dann wollen Union und SPD doch schon am Mittwoch den zweiten Wahlgang. Der frisch gebackene Fraktionsgeschäftsführer Steffen Bilger (CDU) aus Ludwigsburg begründet: „Unser Land kann sich keine weitere Verzögerung leisten.“ Er bedankt sich für die vielen Gespräche der letzten Stunden.

Die designierte Staatssekretärin Katja Mast sagt: „Deutschland steht vor großen Herausforderungen.“ Mit Pathos in der Stimme versucht sie, die Stimmung zugunsten der künftigen Regierung zu drehen. „Unsere Verantwortung ist größer als die von jedem einzelnen Abgeordneten, der hier im Bundestag sitzt.“ Spannend: Mandatsträger aus dem Südwesten spielen also an diesem historischen Tag eine wichtige Rolle.

Dann geht es weiter – offenbar sind sich die Koalitionäre sicher, dass sie eine Mehrheit zustande gekommen. Der Himmel über Berlin ist immer noch wolkenlos, die Spannung steigt. Doch dann, im zweiten Wahlgang, verziehen sich auch die Wolken und dunklen Gesichter im Bundestag: Friedrich Merz hat es doch geschafft, und kann seine Ernennungsurkunde vom Bundespräsidenten abholen.

Der historische Moment des Scheiterns im ersten Wahlgang, er bleibt eine Randnotiz der Geschichte.

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