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Mehmet nimmt Hilfe an und wandert nicht ins Gefängnis

Mit den Häusern des Jugendrechts war Baden-Württemberg Vorreiter beim Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen.
dpa/Bernd Weißbrod)Stuttgart. „Du musst überlegen, was du vorher tust, keinen interessiert, was du am Ende tust.“ Die Zeilen stammen aus einem Rap von Mehmet. Mehmet kommt als Kleinkind mit seinen Eltern und zwei älteren Geschwistern aus der Türkei nach Stuttgart. Schon in der Grundschule gibt es Probleme. Er wechselt mehrmals die Schule und landet an einer Förderschule für Lernbehinderte. Mehmet hält sich nicht an Regeln, beschimpft Lehrer, bedroht Mitschüler und beschädigt Schuleigentum.
Die Schulleiterin berichtet in einer Sprechstunde im Haus des Jugendrechts über die Probleme. So kommt der Kontakt der Behörden zur Familie zustande. Trotz Hilfe gibt es über Jahre immer wieder Ärger. Stets wird das Haus des Jugendrechts in Stuttgart Bad-Cannstatt informiert. Dieses war das Erste, das vor über 25 Jahren öffnete. Mehmet ist dort ein Fall von vielen. Wie viele Fälle Staatsanwaltschaften, Polizei und Jugendämter in den Einrichtungen betreuen, wird nicht genau erfasst. Auch über die Erfolge kann das Justizministerium nichts Genaues sagen.
Dies hat die FDP-Fraktion in einem Landtagsantrag abgefragt. „Leider ist festzuhalten, dass die Arbeit der Häuser des Jugendrechts kein verbindliches Datenerfassungssystem haben“, sagt der FDP-Abgeordnete Dennis Birnstock. So weiß man nicht, wie viele Täter-Opfer-Ausgleiche es gibt und ob sich deren Zahl durch die Arbeit der Häuser des Jugendrechts erhöht. Dasselbe gilt für die Rückfallquoten.
Die FDP-Fraktion spricht sich für hybride Angebote aus
Birnstock spricht sich für eine Datenerhebung mit einheitlichen Kriterien aus. „Das könnte die Effektivität der Jugendstrafrechtspflege verbessern“, sagt er. Er wünscht sich mehr Unterstützung von Jugendhilfeprojekten mit ähnlicher Zielrichtung außerhalb von Häusern des Jugendrechts, um die Präventionsarbeit landesweit zu verbessern. Mehmet hatte Glück, dass er in Stuttgart lebt. Hätte er in einer ländlich geprägten Gegend ebenso Hilfe erhalten?
„Wir setzen uns dafür ein, das Angebot auch und gerade in ländlichen Regionen auszubauen und hybrid zur Verfügung stellen zu können, sagt der FDP-Abgeordnete Nico Weinmann. Er lobt die Arbeit der Häuser des Jugendrechts, sie seien unbürokratisch und gut vernetzt. Es gibt klare Zuständigkeiten und Ansprechpartner. Kurze Wege ermöglichen schnelle Entscheidungen und passende Hilfe.
Doch die Häuser des Jugendrechts sind in den Städten. Das Justizministerium verweist darauf, dass es bereits Projekte im ländlichen Raum gibt, etwa im Kreis Tuttlingen das Projekt „Jugendamt-Kooperation-Polizei“. Im Neckar-Odenwald-Kreis haben das Landratsamt und die Stadt Mosbach mit Polizei und der Staatsanwaltschaft Heilbronn eine entsprechende Kooperation.
Ein Freund überzeugt Mehmet, sich freiwillig beim Haftrichter zu stellen
Wie schwierig die Arbeit sein kann, zeigt der Fall Mehmet: Mit 14 Jahren und Erreichen der Strafmündigkeit wird er mehrmals straffällig. Trotz großer Mühe von allen Seiten kommt es zu Gewalttaten, sodass die Staatsanwaltschaft letztendlich Haftbefehl beantragt. Die Jugendhilfe informiert das Beratungszentrum im Haus des Jugendrechts, das einen Heimplatz für Mehmet hätte. Denn die Familie ist überfordert. Dort aber kann er nur aufgenommen werden, wenn kein Haftbefehl besteht. Nach einem Austausch zwischen allen Beteiligten wird Mehmet gebeten, sich freiwillig beim Haftrichter zu stellen und so eine Inhaftierung zu vermeiden. Einem Freund gelingt es, Mehmet dazu zu bewegen.
Daniela Kund leitet die Kinder- und Jugendhilfe in Stuttgart. Ihr zufolge gibt es keine „One-fits-all-Lösung“, es brauche individuelle, passgenaue Lösungen. „Wer etwas gegen Jugendkriminalität machen will, sollte die Jugendämter und die freie Jugendhilfe stärken“, sagte sie kürzliche bei einer Veranstaltung der Grünen-Fraktion zum Thema Jugendgewalt im Landtag. Auch brauche es genug Stellen bei Polizei und Justiz.
„Ein Gefängnis ist kein guter Ort für junge Menschen“
In manchen Fällen ist eine Inhaftierung alternativlos. Und doch plädiert Wolfgang Stelly, Kriminologe an der Justizvollzugsanstalt Adelsheim dafür, zu berücksichtigen, dass Gefängnisstrafen für junge Menschen oft keine große Abschreckungswirkung hätten. Dass das Gefängnis kein gutes Resozialisierungsumfeld ist, zeigen ihm zufolge die hohen Rückfallzahlen. „Ein Gefängnis ist kein guter Ort für junge Menschen, es ist kein guter Ort, an dem es Entwicklungsmöglichkeiten gibt“, sagt Stelly.
Mehmet hatte Glück und er hat seine Chance genutzt. Mit viel Geduld und Hilfe gelingt es ihm, neue Perspektiven zu entwickeln. Und doch endet sein Rap mit „…der Teufel bleibt mein Begleiter“. Seine Begleiter hoffen, dass er standhaft bleibt.
Das Ziel: Verbrecherkarrieren frühzeitig zu stoppen | Staatsanzeiger BW
Das Ziel im Koalitionsvertrag soll erreicht werden
Zwölf Häuser des Jugendrechts gibt es im Land: Das erste entstand 1999 in Stuttgart-Bad Cannstatt, es folgten Pforzheim (2012), Mannheim (2015), Heilbronn (2017), Ulm und Offenburg (2020) sowie Karlsruhe (2021). 2022 eröffneten zwei in Villingen-Schwenningen und Waldshut-Tiengen, Ende 2024 folgte Konstanz und in diesem Jahr zwei Weitere in Stuttgart und Heidelberg. Weingarten und Lahr sollen laut Justizministerium folgen. Auch Freiburg, Tübingen, Kehl und Ludwigsburg wollen Häuser des Jugendrechts einrichten. So wird sich deren Zahl bis Ende der Legislatur verdoppeln, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen.