Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Schüler schlüpfen in die Rolle von Richter, Staatsanwalt und Co.

Der erste Justizhauptwachtmeister Timmy Elsas erklärt die Aufgaben seiner Zunft: für Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Justizgebäude sorgen.
Petra Mostbacher-Dix)Stuttgart. „Spielen Sie Basketball?“ Tim zeigt auf einen Korb an der Wand mit zwei Bällen. Seine Frage bringt nicht nur Hans-Peter Rumler, den Präsidenten des Landgerichts Stuttgart, zum Lachen. Auch die 19 Schülerinnen und Schüler, die sich in seinem Büro versammelt haben: Neun- bis Vierzehnjährige aus Stuttgart und näherer Umgebung, die für eine Gerichtsführung ausgewählt wurden. Diese findet im Rahmen der landesweiten Aktionstage „Kinder- und Jugendschutz“ des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg statt.
Das kommt an. Fast 40 Bewerbungen seien herein geflattert, erzählt Franka Holl. Die Psychosoziale Prozessbegleiterin gehört zur gemeinnützigen Einrichtung PräventSozial, die in Kooperation mit dem Landgericht Stuttgart die Besuche durchführt.
Auch Holl schmunzelt, als der Gerichtspräsident schlagfertig Tim anbietet, „einen Korb zu machen“. Der lässt sich das nicht zwei Mal sagen, wirft – und trifft. „Toll“, nickt Rumler. „Mein Fitnesstrainer meinte, ich bräuchte so einen Basketballkorb, um mich zu erinnern, Sport zu machen. Wir haben übrigens auch einen Fitnessraum hier für uns Wachtmeisterinnen und Wachtmeister.“
Begeistert stellen die Kinder und Jugendlichen Fragen über Fragen, wie schon zuvor in der Bibliothek ein paar Stockwerke darunter. So nah kommt man dem Chef des größten Gerichts von Baden-Württemberg und eines der größten Landgerichte Deutschlands nicht alle Tage. Doch was macht denn der so alle Tage?
Er sei für Verwaltungsakte verantwortlich, auch für Baugeschichten, sagt Rumler, auf das Sicherheitsnetz an der Fassade verweisend: Das Landgericht Stuttgart hat 70 Jahre auf dem Buckel, muss saniert werden. Freilich ist ein Gerichtspräsident auch als Dienstaufsicht für Personal zuständig – am Landgericht, zum Teil an Amtsgerichten und Notariaten im Bezirk.
„Bekommen Richter und Richterinnen denn auch Noten?“
Allein am Landgericht Stuttgart sind über 200 Richterinnen und Richter mit der Rechtsprechung befasst. Hinzu kommen über 100 ehrenamtliche Handelsrichterinnen und -richter sowie nahezu 1000 Schöffinnen und Schöffen, also ehrenamtliche Richterinnen und Richter in Strafverfahren bei den Amts- und Landgerichten. Weitere 200 Mitarbeitende sind in der Verwaltung und im Unterstützungsbereich beschäftigt.
„Bekommen Richter und Richterinnen denn auch Noten?“, will ein Mädchen wissen „Ja“, betont Rumler. „Ganz wichtig: Sie urteilen unabhängig.“ Ihre Entscheidungen seien nur dem Gesetz unterworfen, dürften nicht von anderen Stellen, Regierung oder Behörden, beeinflusst werden. „Spannend“, kommentiert ein Teenager, als es die Treppe hinab und über den Hof zu den Verhandlungssälen geht. 60 davon haben das Landgericht und das angedockte Oberlandesgericht.
Vor dem Seiteneingang erklärt der erste Justizhauptwachtmeister Timmy Elsas die Aufgaben seiner Zunft: für Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Justizgebäude sorgen. „Wir machen Sitzungsdienste vor und im Saal, bringen die Angeklagten, die von der Justizvollzugsanstalt kommen, in die Verhandlungssäle oder Sicherheitszellen.“ Nicht zum Übernachten: Nur zum Prozess seien die Beschuldigten dort – während Pausen oder Wartezeiten. Wie ein solcher Haftraum aussieht, wird der Beamte später per Beamer in einem Sitzungssaal zeigen: schlicht, pragmatisch, alles fest installiert, damit man nichts kaputt schlagen kann.
„Bekommen die auch veganes Essen?“, will ein Mädchen wissen. „Wir erkundigen uns, ob jemand Unverträglichkeiten hat. Meist gibt es ein Vesper ohne Wurst, falls sich jemand vegetarisch ernährt“, sagt Elsas.
Rund 2500 Gefangenenvorführungen gebe es während eines Jahres, so Elsas. Das meiste laufe problemlos, die Angeklagten seien in der Regel hafterprobt. „Auch durch die Untersuchungshaft. Aber es gibt schon auch spektakuläre Fälle, wo aus Sicherheitsgründen das ganze Justizviertel abgesperrt wird und die Polizei die Straßen kontrolliert.“
Die Schüler wollen wissen, wie man Justizwachtmeister wird
Und wie wird man Justizwachtmeister? In 18 Monaten, es sei ein Aus- und Fortbildungsberuf, so Elsas. Zur Qualifikation gehörten Theorie und Praxis, Letzteres beinhalte etwa intensives Training zu Abwehrtechniken, Deeskalationstechniken und Einsatzszenarien. „Voraussetzung ist unter anderem eine abgeschlossene Berufsausbildung und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung.“ Ein Junge will wissen, ob Elsas denn eine Waffe trage. „Nein, wir haben einen Schlagstock, Reizgas, Handschellen, eine Sicherheitsweste.“ Er zeigt auf seiner Kollegin: Ihre Weste ist aus dem Material Kevlar, schützt vor Stichen, ist schusswaffensicher. „Für Sicherheit sorgt die Einlasskontrolle, das ist wie am Flughafen, manche von euch kennen das bestimmt.“
Das dürfen die Schülerinnen und Schüler nun selbst miterleben. Bevor es zu den Sälen geht, müssen sie durch eine Schleuse, die Rucksäcke laufen durch ein Röntgengerät, sie passieren Metalldetektoren und werden von Sicherheitsmitarbeitern überprüft. Elsas ergänzt, dass, falls es doch aus irgendwelchen Gründen zu Problemen käme, die Spezielle Sicherheitsgruppe (SGS) anrücke. Hintergrund: Die SGS wurde gegründet, nachdem im Januar 2012 im Amtsgericht Dachau ein Angeklagter den Staatsanwalt erschossen hatte. Sie besteht aus acht mobilen Einheiten – vier für Baden, vier für Württemberg. Mit 15 Mitgliedern ist die Stuttgarter Gruppe die größte und für 24 Behörden zuständig, kann also angefordert werden.
Das Highlight ist das Nachspielen einer Gerichtsverhandlung
Das ist freilich bei der Führung nicht nötig. Interessiert betrachten die Kinder und Jugendlichen auf dem Bildschirm, wie das Innenleben ihrer Taschen unter Röntgenblick aussieht, bevor es in den Sitzungssaal Nummer eins geht, dem größten in dem Justizkomplex. Matthias Merz, Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, erklärt das Szenario: Vorne in der Mitte säßen dann der Vorsitzende Richter oder die Richterin, rechts und links davon die Beisitzenden. „Und hier nimmt die Staatsanwaltschaft Platz.“ Merz verweist auf den Tisch auf der linken Seite vom Eingang aus gesehen. Gegenüber ließen sich die Verteidigenden, Angeklagten sowie Nebenkläger nieder.
„Dann gibt es ja auch noch die Schöffen“, nimmt er den Faden auf. Die Kleine Strafkammer sei besetzt mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen, die große mit zwei oder drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Damit auch im Hintergrund alles laufe, gebe es Justizfachangestellte und Rechtspflegerinnen. Letztere nähmen etwa Klageanträge und ähnliche Schriftsätze auf. Und Akten schleppen? Das müsse keiner mehr, so Merz. „Wir sind digitalisiert.“ Hat doch Baden-Württemberg als erstes Bundesland flächendeckend 2023 die vollelektronische Gerichtsakte eingeführt.
Viel Theorie, die die Gruppe nun zum krönenden Abschluss in Saal acht selbst durchspielen darf. Viele Hände gehen hoch, als die Rollen verteilt werden. Merz hat Roben dabei, die sich schließlich eine Richterin, zwei Beisitzer, eine Staatsanwältin und ein Verteidiger umwerfen. Auch eine Jugendgerichtshilfe ist dabei.
Geht es doch in dem Fall, den die PräventSozial-Mitarbeiterinnen vorbereitet haben, um einen Teenager, der ein I-Phone geklaut, dann den Ladendetektiv beim Flüchten verletzt hat. Er habe kein Taschengeld, aber ein Geburtstagsgeschenk gebraucht, verteidigt er sich vor Gericht. Als Strafe wird er zum Putzdienst in dem geschädigten Unternehmen verurteilt. Live Gericht zu halten, das hat allen riesigen Spaß gemacht. „Toll“, schwärmt eine 14-Jährige, die als „Zeugin“ aussagte. „Ich würde das gerne wieder machen.“
Eine neue Personalkampagne für die Justiz des Landes | Staatsanzeiger BW
Die Digitalisierung hält Einzug in den Gefängnissen | Staatsanzeiger BW