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Stuttgart 21 ist eine Kathedrale der Bauingenieurs-Kunst

Der Blick auf die Lichtaugen, die im Dach des Tiefbahnhofes eingebaut wurden.
Foto: Achim Zweygarth)Stuttgart. Was für ein Anblick! Gerade haben wir den Südeingang des künftigen Tiefbahnhofes bei der Haltestelle Staatsgalerie durch die ikonische Glaskuppel passiert und sind Betonstufen herunter gelaufen. Und dann erfasst das Auge den über 430 Meter langen, aus einem Betonstück gegossenen Bahnsteig.
Helligkeit strömt selbst an diesem trüben Regentag durch die Lichtaugen, die der Düsseldorfer Stararchitekt Christoph Ingenhoven irgendwann in den 90er-Jahren auf dem Papier erdacht hat. Überall wird gelärmt und gehämmert, geschraubt und verfugt, Bauarbeiter in roten Leibchen laufen ruhig, aber konzentriert über die wohl größte und teuerste Bahnbaustelle Deutschlands.
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Der helle Weißbeton der Kelchstützen schlummert im Schatten, in jede dieser Konstruktionen sind 20.000 Stahlschrauben verbaut. „Nur zwei davon sind identisch“, sagt Marko Leskovar (49), der Projektleiter für den Tiefbahnhof. Den zäh fließenden Spezialbeton in dieses Gerüst zu gießen, war eine Herausforderung.
Die Schienenstränge sind schon verlegt, von der Decke sind an Hängekonstruktionen die Oberleitungen befestigt. So weit das Auge reicht Bahntechnik. Der Besucher wähnt sich in einem futuristischen Gebäude oder im Hauptquartier der US-Softwarefirma Apple. „Das einzig Gerade hier ist die Bahnsteigkante“, sagt Projektleiter Marko Leskovar, der in früheren Jahren mal ein passabler Amateurfußballer war. Und sogar Torschützenkönig der Landesliga.
Alles ist rund geschwungen. Jedes Betonstück eine Sonderanfertigung, das mit Spezialfahrzeugen eingebaut werden musste. „Zur Eröffnung des Tiefbahnhofes werden Architekten aus New York und Australien kommen“, hofft Leskovar, während wir langsam über den so genannten Verteilersteg schreiten.
Es gibt keine Kanten und Ecken, alles ist rund geschwungen
Von dieser geschwungenen Plattform aus läuft der Bahnfahrer über eine Treppe nach unten. Und schon stehen wir auf Gleis 1, hier hält der Zug, wenn er sich von Cannstatt aus unter der Alten Bahndirektion in den Tiefbahnhof geschlängelt hat. Es herrscht ein kühler Luftzug. „Hier hat es ganzjährig eine angenehme Temperatur“, schmunzelt Marko Leskovar. Eine angenehme Abwechslung zur feuchten Schwüle oben.
Was ist nicht alles über diesen Tiefbahnhof geschrieben und diskutiert worden. Zu starkes Gefälle, zu enge Bahnsteige, drohende Wassereinbrüche, kaum ein Szenario wurde ausgelassen. Stuttgart 21 war das wohl umstrittenste Bauprojekt im Südwesten, hat 2011 der CDU die Macht gekostet und die grünen Politiker Winfried Kretschmann und Winfried Hermann während ihrer gesamten Amtszeit begleitet . Die Stadt war gespalten, es gab Montagsdemonstrationen mit 50.000 Teilnehmern, den Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag, Prozesse um die Mehrkosten.
All dies ist verklungen und gefühlt Lichtjahre entfernt, wenn man hier die Bahnsteigkanten entlang schreitet. Der Abstand zu den Kelchstützen wirkt hier fast großzügig. Das Gefälle ist kaum wahrnehmbar. Was am meisten überrascht: Der Tiefbahnhof liegt gar nicht so tief. Wir befinden uns gefühlt nur ein Stockwerk unter der Erde.
Das wird besonders deutlich, als wir am Ende von Gleis 1 zu einem elliptisch geschwungenen Tunnel kommen. „Die Kartoffel“, schmunzelt der Projektleiter, so nennt man das im Baustellenjargon. Auch hier: keine Ecken, keine Kanten. Von hier aus kommt man von jedem Gleis aus zur S-Bahn. Wir steigen Treppen hinab, nebenan liegen seltsam verdreht die frisch angelieferten Rolltreppen, die noch eingebaut werden müssen.
Marko Leskovars Augen beginnen zu leuchten, wenn er davon erzählt, wie der 430 Meter lange Bahnsteig wie eine gigantische Brücke zentimetergenau auf den quer verlaufenden S-Bahn-Schacht geschoben wurde: „Der Abstand zum S-Bahntunnel beträgt genau 10 Zentimeter.“
Es ist im wahrsten Sinne Millimeterarbeit gewesen, und wie fast alles hier bautechnisch am obersten Limit. „Es muss alles perfekt funktionieren, es gibt keine Ausrede“, sagt der 49-jährige Bauingenieur. Als wir unten im S-Bahn-Schacht stehen, beginnt die nächste Baustelle: Die Sanierung der so genannten „Stammstrecke“ vom Hauptbahnhof bis zur Schwabstraße. Aber das wäre eine andere Geschichte.
Wir verlassen diesen wirklich tiefen, bereits in den 70er-Jahren gebauten S-Bahnschacht und laufen zurück auf Gleis 1 des Fernbahnhofes. Denn von hier aus geht es ebenerdig in eine „Lounge“, die dann in den Bonatzbau führt. Also das 100 Jahre alte, historische Gebäude des Architekten Paul Bonatz, ein Wahrzeichen Stuttgarts. Es ist vollständig eingerüstet. Durch die Stangen und Holzplatten schimmert karmesinrot der Backstein. In gut 30 Metern Höhe sind drei riesige Farbmuster, mit denen der Backstein später gestrichen werden soll. „Die hat der Architekt hier persönlich ausgewählt“, sagt der Projektleiter Marko Leskovar. Es wird wohl eher ein hellerer Ton.
Denn das Generationen von Stuttgartern bekannte graugelb war nicht die Originaltonfarbe, sondern ist den Abgasen und der Verschmutzung in 100 Jahren geschuldet. Im Inneren geht eine Treppe nach oben. Dort werden Erinnerungen wach. Die alte Bahnhofshalle, in der vom Fastfood bis zum Kiosk oder dem Bäcker alles teuer verkauft wurde, was der Bahnkunde in letzter Minute noch eilig benötigen könnte.
Hoch oben sieht man den historischen Schriftzug der Einweihung aus dem Jahr 1922. Solche Zeitzeugnisse sollen erhalten bleiben. „Es steht aber eigentlich nur noch die Fassade des Bonatzbaus“, sagt der Projektleiter. Den Umbau zu einem Einkaufszentrum mit Hotel übernimmt allerdings eine andere Projektgesellschaft. Aber natürlich muss alles verzahnt sein, damit der Bahnkunde am Ende von den Gleisen mit nur einer Treppe bis in die Königsstraße flanieren kann, über den in ferner Zukunft beruhigten Arnulf-Klett-Platz, über den jetzt vierspurig die Autos donnern. Noch ist das schwer vorstellbar. Irgendwo zwischen Schotterflächen, Schuttbergen und Baucontainern ragen markante Gebäude der Landeshauptstadt wie das Planetarium irgendwie verloren hervor.
Auf den Baustraßen neben der Großbaustelle fahren Lastwagen und Baufahrzeuge. Eine parallele Welt, von der die Bürger und Passanten nichts mitbekommen. Fast eine kleine Stadt in der Stadt. Dort besichtigen wir noch einen interessanten Ort.

Die Alte Bahndirektion sitzt auf dem Tunnel nach Norden auf
Aus dem Bonatzbau heraus über den Nordausgang, mit Blick auf die alte Bahndirektion. Die stand viele Jahre lang auf Stelzen, weil unter ihr hindurch der Tunnel von Norden gebuddelt wurde. „Dass es gelungen ist, dieses 20.000 Tonnen schwere Gebäude unversehrt wieder auf den Tunnel aufzusetzen, war großartig“, schmunzelt der 49-jährige Projektleiter. Wir stehen auf dem künftigen Kurt-Georg-Kiesinger-Platz, früher war hier ein Parkplatz und Taxis hielten an. Das soll auch wieder so werden, in einem „Taxikreisel“. Hier ist eines der ikonischen Lichtaugen flach und glänzt in der matten Sonne.
Und da ist dann auch der Schriftzug „Hauptbahnhof Stuttgart“ an einem runden, kuppelförmigen Gittergerüst, das noch teils verhüllt ist. Hier werden die meisten Passanten ihn betreten, oder verlassen Richtung Shoppingcenter Milaneo oder Innenstadt. Kurios: Der Besucher läuft auf Stahlplatten. Die wurden verlegt, um das spätere Gewicht der Aufbauten kilogenau zu simulieren. Bei Stuttgart 21 wird nichts dem Zufall überlassen. Dann geht es zurück aus der Parallelwelt in den hupenden, stauenden oder fließenden Verkehr. Die Baustelle liegt abgeschottet.
Selbst alte Gegner wie Verkehrsminister Winfried Hermann haben irgendwie ihren Frieden gemacht. „Natürlich ist es ein schöner Bahnhof, aber er ist viel zu teuer“, sagte er kürzlich. Nun bleibt die spannende Frage, wann das 12-Milliarden-Projekt vollendet ist, Einweihung ist im Dezember 2026, alle Züge fahren ein Jahr später . Auch Marko Leskovar zieht seine Baustellenweste aus. „Man sieht, wie es sich entwickelt“, sagt er, „und ein wenig stolz sind wir schon auch darauf.“
Einen Kommentar zur Architektur lesen Sie hier : Bahnhof mit Opernhaus-Ambition
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