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Wie Cem Özdemir zu dem wurde, der er heute ist

Über Cem Özdemir, den Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl im März, erscheint am 12. November eine erste Biografie.
IMAGO/Metodi Popow)So manches ist Cem Özdemir nicht geworden, was er angestrebt hat in seinem schon ziemlich langen politischen Leben. Begonnen hatte es damit, dass ihm der Tübinger Kreisverband Ende der Achtzigerjahre die Bundestagskandidatur verweigerte. Auch mit anderen Ambitionen stieß er bei der grünen Basis auf mehr Widerstand als Unterstützung. Er verzichtete aufs Amt des Ausländerbeauftragten in der Regierung Schröder, vorrangig aus Quoten-Gründen. Er wurde weder Wirtschafts- noch Außenminister. Und 2019 wurde er nicht Chef der Bundestagsfraktion. (…)
Die Realos schäumten, nicht zuletzt Winfried Kretschmann. Baden-Württembergs Ministerpräsident erinnerte an die flammende Bundestagsrede wider die AfD und mochte nicht begreifen, wieso die Fraktion „ein politisches Schwergewicht mit breitestem Themenspektrum und ihren besten Redner obendrein“ nicht in die erste Reihe aufsteigen ließ.
Durch solche Niederlagen wurden aber auch diese Özdemir irgendwann vertrauten und seinen Fans angemessen erscheinenden Reaktionen ausgelöst: Bei Auftritten, bei Diskussionen, im Wahlkreis selbst auf der Straße von Passanten, in bürgerlichen Medien und in wohlgesetzten Worten wurde ihm gern und oft bescheinigt, wie falsch es sei, dass ihm der nächste Karriereschritt verweigert worden war. 2019 wurden ihm die bis dahin größten Kränze geflochten, als er in für Oppositionspolitiker normalerweise unerreichbare lichte demoskopische Höhen aufstieg und zum zweitbeliebtesten deutschen Politiker nach dem Bundespräsidenten avancierte. Aber eben doch nicht zum Fraktionschef.
„Dass die Grünen ihn ignorieren, ist fahrlässig“, tadelte sogar der dezidiert konservative Ulf Poschardt in der „Welt“. Denn: „Unser Land braucht so jemanden wie ihn ganz besonders.“ Aus Özdemirs Perspektive wäre es ausgesprochen praktisch gewesen, die Urheber solcher Lobeshymnen hätten keine drei Jahre später aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht, hätten sich und andere öffentlich erinnert an solche Bestnoten: Unterstützung in der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung hätte er da gut gebrauchen können.
Stattdessen begann ein heftiger Kulturkampf ohne Happy-End. (…) Dabei waren die Erwartungen groß, gerade im baden-württembergischen Landesverband und bereits mit dem vorsichtigen Blick auf das irgendwann anstehende Ende der Ära Kretschmann. Beim Landesparteitag im Herbst 2021 rühmte der Ministerpräsident den designierten Landwirtschaftsminister im Bund als „begnadeten Kommunikator“, der „unglaublich gut“ mit Menschen könne.
Die überraschende Berliner Personalie regte die Fantasie der „Stuttgarter Zeitung“ zu dieser Vision an: „Özdemir tätschelt friedvolle Schafe, streichelt glückliche Schweine und spricht mit ausgeruhten Kühen. Dann tritt er in einen Kuhfladen, alles lacht. Özdemir verspricht dem Bauern mehr Geld, bewundert die Solaranlage auf dem Dach der Scheune, grüßt das Windrad auf dem Feld, kostet Biokäse und Biomilch.“ Schönes Märchen dagegen eine harte Realität: Der Neue war fachfremd. So viele Themen hatte er intensiv beackert in seinem bisherigen politischen Leben, doch Landwirtschaft und Ernährung gehörten nur ziemlich peripher dazu.
Einen ersten Höhepunkt brachte die Umsetzung eines simplen Versprechens im Koalitionsvertrag der Ampel, dass es „an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben darf“. Mit Betonung auf „darf“, da stand nicht ein vergleichsweise unverbindliches „soll“.
Der zweifache Vater mit einschlägigen Alltagserfahrungen mit seinem an Food interessierten Nachwuchs ging die Werbeeinschränkungen für solche Lebensmittel beherzt an. Zumal es, fand er, bei Fünf- oder Achtjährigen anders als bei Erwachsenen keinesfalls um eine Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit gehe, sondern um deren Gesundheit – in vielen Fällen ein ganzes Leben lang. Mehr als 15 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen in Deutschland seien übergewichtig, Tendenz steigend. Zugleich hätten schon vor Corona mediennutzende Kinder und Jugendliche im Durchschnitt 15 Werbeeinblendungen analog oder digital für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt täglich gesehen (…). Obendrein hatte während der Pandemie der Medienkonsum in der betreffenden Altersgruppe auch noch um 70 Prozent zugenommen. Zeit also, zu handeln. (…)
Der Landwirtschaftsminister beriet sich mit Fachleuten aus dem eigenen Haus, mit externen Experten wie Kinderärzten und diskutierte die EU-Richtlinie, die schon 2010 einschlägige Verhaltenskodizes empfahl, und die Einschränkungen in anderen europäischen Ländern wie Polen, Irland oder Dänemark. (…)
Seine Vorgängerin, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, war als Verbraucherschutzfachfrau ihrer Fraktion mehr als zehn Jahre zuvor (…) unterwegs in Dänemark gewesen, um sich über Strategien zur Zuckerreduzierung in Nahrungsmitteln oder zumindest zur offensiven Kennzeichnung zu informieren (…). Als zuständige Ministerin setzte sie 2019 auf eine Selbstverpflichtung der Industrie mit den vielen klingenden Namen, von Nestlé über Danone bis Mars oder Haribo, ein Unternehmen, das noch im selben Jahr die Kehrtwende ankündigte. Das „Handelsblatt“ zitierte die bemerkenswerte Begründung: Die Werbebudgets seien auf zuckerreduzierte Fruchtgummis konzentriert worden, aber erfolglos geblieben, weil Kunden „nicht ständig daran erinnert werden wollen, dass der Kauf einer Süßware nicht unbedingt eine rationale Entscheidung ist“.
Özdemir blieb unbeeindruckt und wagte eine kühne, sich vermutlich – irgendwann im nächsten Jahrzehnt – als allzu optimistisch herausstellende Prognose: „In zwanzig Jahren werden wir auf Werbung für Zuckerbomben draufschauen wie jetzt auf den Marlboro-Mann.“
Wie die Biografie über Cem Özdemir entstanden ist
Johanna Henkel-Waidhofer und ihr Mann Peter Henkel haben die erste Biografie über Cem Özdemir geschrieben, der im Dezember 60 Jahre alt wird. Das Buch mit dem Titel „Cem Özdemir – Brücken bauen“ erscheint in der kommenden Woche im Bonifatius Verlag. Vorgestellt wird es vom ehemaligen Außenminister Joschka Fischer (Grüne), der auch das Vorwort geschrieben hat, am 12. November. Es kostet 24 Euro.
Als Kind türkischer Gastarbeiter geboren und aufgewachsen in einer schwäbischen Kleinstadt, hat es Özdemir zu Parlamentsmandaten in Bonn, Brüssel und Berlin und schließlich zu Ministerämtern gebracht, ebenso zum langjährigen Parteichef von Bündnis90/Die Grünen − nicht ohne Höhen und Tiefen. Jetzt will er Ministerpräsident im drittgrößten Bundesland Baden-Württemberg werden und Winfried Kretschmanns Erbe bewahren und fortentwickeln. Die Autoren machen diesen Mann, sein Leben und seine Haltung deutlich – und das keinesfalls unkritisch. (sta)