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Wir brauchen eine neue Verantwortungskultur

Der Autor Steffen Jäger ist Präsident und Hauptgeschäftsführer des Gemeindetags Baden-Württemberg.
R.Koch/Gemeindetag Baden-Württemberg)Heute – am 23. Mai, dem Tag unserer Verfassung – spreche ich nicht nur im Namen der 1065 Mitgliedsstädte und -gemeinden des Gemeindetags. Ich spreche als Demokrat. Als Staatsbürger. Die Wahrheit ist: Unser Land steht unter Druck. Nicht wegen einer einzelnen Krise. Sondern weil sich Entwicklungen überlagern: geopolitisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Der Krieg in Europa hat uns klargemacht, dass Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist. Die wirtschaftliche Lage hat sich eingetrübt – zwei Jahre Rezession, steigende Standortunsicherheit, sinkende Investitionskraft. Unsere Volkswirtschaft verliert an Schwung – und mit ihr gerät auch unser Staat, ja unsere Handlungsfähigkeit, ins Rutschen. Denn: Nur wer wirtschaftlich stark ist, kann politisch gestalten. Nur wer solide finanziert ist, kann solidarisch sein. Und nur wer handlungsfähig bleibt, kann Vertrauen erhalten. Doch diese Handlungsfähigkeit ist in Gefahr.
Die Kommunen haben 2024 ein Defizit von über drei Milliarden Euro verzeichnet – so hoch wie nie zuvor. Die Aussichten für 2025 sind noch düsterer. Wir sprechen hier nicht über freiwillige Leistungen. Wir sprechen über die Basis: Bildung, Betreuung, Sicherheit, Infrastruktur. Das Fundament wankt. Wir fordern schon lange: Die Kommunen brauchen mehr vom Steuerkuchen.
Der Staat lebt über seine Verhältnisse
Doch dies allein wird nicht reichen. Denn die Wahrheit ist: Der Staat lebt über seine Verhältnisse. Das Problem ist nicht nur Geld. Es ist ein aus den Fugen geratenes Maß an Versprechen, Regelungen, Standards und Erwartungen, das sich über Jahre aufgestaut hat. Über 80 Prozent der Gesetze werden auf kommunaler Ebene umgesetzt – lange ein Erfolgsfaktor der Bundesrepublik Deutschland. Doch wenn immer mehr Aufgaben übertragen werden ohne das erforderliche Personal, ohne gesicherte Finanzierung, kommt dieses Modell an seine Grenzen. Die Kommunen stehen sinnbildlich für den Zustand des Staates: an der Grenze des Leistbaren angelangt. Und dies ist kein Betriebsunfall – es ist systemisch.
Wir haben uns an ein Staatsbild gewöhnt, das alles ermöglichen soll: maximale Einzelfallgerechtigkeit, Vollabsicherung, reibungslose Versorgung. Doch der Staat ist kein Bestellshop. Und Demokratie ist keine Dienstleistung. Deshalb braucht es jetzt mehr als finanzielle Kompensation. Es braucht eine Reform der politischen Ehrlichkeit. 93 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg sagen: Nach der Stabilisierung der Finanzen ist Bürokratieabbau das drängendste Thema. Aber das allein wird nicht reichen. Es geht um mehr: um Aufgabenverzicht, um Standardkritik, um Konsolidierung – um einen neuen Gesellschaftsvertrag mit einer neuen Verantwortungskultur. Wir müssen wieder bereit sein, beizutragen, statt nur zu erwarten. Mehr Arbeit statt Vier-Tage-Woche, Mitwirkungspflichten im Sozialstaat statt stetig steigendem Anspruchsdenken. Eine ehrliche Debatte über das Renteneintrittsalter statt Festhalten an Illusionen. Mehr Solidarität – auch von denen, die mehr haben.
Gleiches gilt für die Migrationspolitik: Integration gelingt nur, wenn die Zugangszahlen beherrschbar sind und auch Mitwirkung und Rückführung Teil des Systems sind. Dies auf der Grundlage von Humanität und Verantwortung. Menschenverächter haben keine Lösungen, sie haben nur Propaganda. Die Demokraten müssen beweisen, dass sie es besser können: klar, verbindlich, wirksam.
Weg von der Vollkaskomentalität
Auch beim Klimaschutz gilt: Wir brauchen ihn – aber wir brauchen ihn so, dass die Menschen mitgehen können. Ökologisch ambitioniert, ökonomisch tragfähig, gesellschaftlich anschlussfähig. Wir müssen weg vom Überbietungsstaat. Weg von der Vollkaskomentalität. Weg von der Selbsttäuschung, dass Ziele dann erreicht sind, wenn sie im Gesetzblatt stehen. Die Wahrheit kennen wir längst. Jetzt müssen wir den Mut haben, sie auszusprechen – und zu handeln.
Das Grundgesetz war nie als Schönwetterordnung gedacht. Es ist eine der größten Wohltaten, die unser Land je erfahren hat. Und es verpflichtet uns zur Selbstverwaltung, zur Verantwortung, zur Teilhabe. Zur res publica – zur gemeinsamen Sache. Wenn wir das ernst nehmen, dürfen wir jetzt nicht warten, zaudern oder schönreden. Die Gemeinden sind der Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind. Es gilt, diese Wirklichkeit anzuerkennen und aus der Krise den Mut zur Erneuerung zu schöpfen. Dafür braucht es nicht nur andere Gesetze. Es braucht eine andere Haltung – in Gesellschaft und in der Politik.