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Essay

Bilanz der Corona-Politik: Wir müssen einander viel verzeihen, aber nicht alles

Ganz so schlecht, wie sie oft gemacht wird, war die deutsche Corona-Politik nicht. Trotzdem müssen die Sorgen und Nöte der Menschen ernstgenommen werden, die in der Pandemie gelitten haben und teilweise bis heute leiden. Schon allein, um zu verhindern, dass die Querdenker und Verschwörungstheoretiker wieder Auftrieb bekommen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmte sich während der Pandemie regelmäßig mit den 16 Länderchefs, darunter Winfried Kretschmann, ab.

dpa/Wolfgang Kumm)

Kürzlich lud die AfD zu einem Corona-Symposium nach Stuttgart ein. Die Rechtsaußen-Fraktion, die seit ihrem zweiten Einzug in den Landtag von Baden-Württemberg eher unauffällig agiert – die meisten, die aus der Reihe tanzten, sind bereits während der ersten Legislaturperiode ausgeschieden –, wagte sich zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit in die Öffentlichkeit. Stand ihr Neujahrsempfang im Februar noch unter dem Zeichen des nahenden Landesparteitags, der alles andere als geordnet ablief, bei dem aber letztlich die Vernünftigeren obsiegten, ging es nun um ein Thema, das seit 2020 zum Markenkern der AfD gehört: Corona.

Und selbstverständlich wusste man wieder alles besser. Wobei schon interessant war, was man auf dem Symposium alles hören konnte. Angefangen beim Vergleich mit Staaten wie Schweden, der belegen sollte, dass strenge Corona-Maßnahmen Todesfälle nicht verhindert, aber die Wirtschaft ausgebremst haben, über den Vorschlag, beim nächsten Mal mehr föderale Alleingänge zu wagen bis zur Forderung nach einem Tribunal für alle, die in der Zeit der Pandemie Verantwortung trugen.

Eine Erkenntnis nahm wohl jeder mit, ob er nun Sympathien für die Rechtspopulisten hegt oder nicht: Corona ist auch vier Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie immer noch ein Thema. Allerdings musste man sich für diese Erkenntnis nicht zum Corona-Symposium der AfD begeben; die aktuellen Nachrichten, etwa über das RKI, geben das ebenfalls her.

Und die Forderung nach einer Aufarbeitung kommt auch nicht nur von rechts außen. Die Stimmung scheint sich in dieser Hinsicht gerade zu drehen, und das ist gut so. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat angekündigt, die RKI-Protokolle so weit wie möglich entschwärzen zu lassen. Eine Enquetekommission des Bundestags, die Lauterbach bislang ablehnte, wird immer wahrscheinlicher. Vizekanzler Robert Habeck ist ebenso dafür wie FDP-Chef Christian Lindner. Auch in der CDU, die in der ersten Phase der Pandemie sowohl die Kanzlerin als auch den Bundesgesundheitsminister stellten, mehren sich die Stimmen dafür, die Pandemie nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch aufarbeiten zu lassen. Nur die SPD ziert sich noch.

Der Landtag von Baden-Württemberg ist da schon deutlich weiter. Die Enquetekommission „Krisenfeste Gesellschaft“ hat 21 Mal getagt: von Juni 2022 bis Februar 2024. Zwei Mal wurde Ministerpräsident Winfried Kretschmann angehört – einer jener 16 Landesfürsten, die zwei Jahre lang gemeinsam mit der Kanzlerin alle wesentlichen Corona-Entscheidungen trafen. Und dies nach bestem Wissen und Gewissen, wie Kretschmann in der Enquete betonte. Deshalb sehe er keinen Anlass, sich im Nachhinein zu entschuldigen.

Muss er auch nicht, aber vielleicht wäre es klüger, diesem Thema mehr Raum zu geben. Weil es eben nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. Alle Querdenker und Verschwörungstheoretiker wird man wohl nicht erreichen. Doch es gibt genügend Gutwillige, die Corona derart mitgenommen hat, dass sie bis heute leiden. Sei es, dass sie schwere Gesundheitsschäden durch die Krankheit selbst erlitten oder durch die Impfung – doch, das gab es auch. Oder dass sie seelisch immer noch nicht wieder genesen sind. Auch Lebenschancen anderer Art gingen verloren: Weil Schüler nicht folgen konnten, fielen ihre Abschlüsse schlechter aus, als dies mit Präsenzunterricht der Fall gewesen wäre.

Dies zu benennen, kann helfen, Wunden zu heilen. Die Menschen wollen ernstgenommen werden in ihren Sorgen und ihrem Leid. Vermutlich war es ein Fehler, die Schulen länger zu schließen als etwa in Frankreich und der Schweiz. Vermutlich hätte man sich manche Polizeimaßnahme ersparen können. Das „Team Vorsicht“, zu dem auch Winfried Kretschmann und sein Gesundheitsminister Manne Lucha zählten, hat es bisweilen übertrieben – man denke nur an die Ausgangssperren.

Manchmal lohnt es sich innezuhalten, selbst wenn es im Moment ganz andere Probleme gibt. Und sei es nur, damit die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderfällt. Dafür lohnt jede Enquetekommission und jede Entschwärzung. Vielleicht auch, weil man bei der Vergangenheitsbewältigung feststellt, dass doch nicht alles falsch war. Und dass wir gar nicht so schlecht darin sind, Krisen zu bewältigen, selbst wenn wir einander anschließend viel verzeihen müssen, wie es Jens Spahn im April 2020 im Bundestag prophezeite.

Michael Schwarz

Redakteur Politik und Verwaltung

0711 66601-599

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