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Martin Finckh: „Der Justizvollzug ist ein Spiegelbild der Gesellschaft“

Martin Finckh ist Leiter der Abteilung Justizvollzug im Justizministerium.
Reich) Staatsanzeiger: Wie ist der Justizvollzug Baden-Württemberg im bundesweiten Vergleich aufgestellt?
Martin Finckh: Ein bundesweiter Vergleich ist schwierig, da jedes Land andere Schwerpunkte setzt. Steigende Belegungszahlen und die Zunahme an psychisch auffälligen Gefangenen sind überall festzustellen. Bei der Digitalisierung und der Telemedizin sind wir in Baden-Württemberg führend.
Die Kosten des Justizvollzugs im Land liegen unter dem Bundesdurchschnitt. Ist Baden-Württemberg besonders effizient oder nicht gut ausgestattet?
Der Justizvollzug ist in Baden-Württemberg auf jeden Fall effizient aufgestellt und gut ausgestattet. Bei der Personalausstattung liegen wir im bundesweiten Vergleich jedoch im unteren Bereich, insbesondere im mittleren Vollzugsdienst – trotz deutlicher Stellenzuwächse seit 2016. Der Justizvollzug ist kostenintensiv mit zuletzt deutlichen Kostensteigerungen insbesondere bei der medizinischen Versorgung und der Verpflegung. Ein Beispiel: Bei der Versorgung von Gefangenen mit Lebensmitteln lagen wir viele Jahre im Schnitt bei einem Tagessatz von circa 2,30 Euro pro Gefangenen. Die Lebensmittelpreise sind stark gestiegen und führen somit zu einer Verdoppelung des Tagessatzes.
Wie steht es um das Mikroklima in den Justizvollzugsanstalten?
Der Justizvollzug ist ein Spiegelbild der Gesellschaft – wobei das Spiegelbild eher wie ein Brennglas wirkt. Auch außerhalb der Gefängnismauern ist es gefühlt rauer geworden. Körperliche Auseinandersetzungen unter Gefangenen kommen vor; eine signifikante Zunahme ist aber nicht festzustellen. Leider gibt es auch Angriffe auf Bedienstete sowie eine wachsende Zahl von Anfeindungen, Beleidigungen und Widerstandshandlungen. Auch die Zusammensetzung der Gefangenenpopulation hat sich in den letzten Jahren geändert, hin zu einem hohen Ausländeranteil sowie mehr psychisch auffälligen und suchtkranken Gefangenen.
Die Gefängnisse sind zu 99 Prozent belegt. Bei 90 Prozent spricht man von Vollbelegung. Wie lange geht das noch gut?
Es gab immer Schwankungen in der Belegung. Zuletzt sind insbesondere die Zahlen in der Untersuchungshaft stark angestiegen. Mit großen Anstrengungen bei der Haftplatzerweiterung und vielfältigen organisatorischen Maßnahmen können wir dem Belegungsdruck standhalten.
Wie erklären Sie sich die steigenden Zahlen in der U-Haft? Zunehmende Fluchtgefahr, da kein fester Wohnsitz?
Für die starke Zunahme im Untersuchungshaftbereich gibt es keine belastbaren Gründe. Wir haben allerdings auf den Belegungsanstieg reagiert und schaffen seit Jahren neue Haftplätze. Auf dem Gelände der Vollzugsanstalten Heimsheim, Ravensburg und Schwäbisch Hall wurden Haftgebäude in Modulbauweise mit insgesamt 360 Haftplätzen errichtet. Dazu kommt in circa zwei Jahren das neue Gefängnis in Rottweil mit über 500 Haftplätzen, davon 470 im geschlossenen Vollzug.
Reichen die neuen Haftplätze dann aus?
Auch nach der Inbetriebnahme der neuen Anstalt in Rottweil müssen wir in den Justizvollzugsanstalten Erweiterungsmöglichkeiten für neue Haftplätze in den Blick nehmen.
Vor welche Herausforderungen stellen die psychisch auffälligen Gefangenen den Justizvollzug?
Sie verursachen einen hohen Betreuungsaufwand nicht nur in den Krankenrevieren und im Justizvollzugskrankenhaus, sondern auch auf den Stockwerken. Ein Vollzugsstörer macht mehr Arbeit als zehn Gefangene, die sich sozialadäquat verhalten.
Dazu kommen mehr Menschen mit Migrationshintergrund, Sprachproblemen und anderem kulturellen Hintergrund.
Der Anteil der ausländischen Gefangenen ist auf 53,7 Prozent gestiegen. In der Untersuchungshaft liegt er noch höher. Zugenommen hat vor allem die Zahl der Gefangenen aus Nordafrika. Mit diesen Gefangenen gibt es im täglichen Umgang große Probleme. Die Verständigungsschwierigkeiten mit Gefangenen aus über 90 Nationen haben wir seit vielen Jahren mit dem Einsatz von Videodolmetschern sehr gut im Griff. Innerhalb kürzester Zeit können Dolmetscher per Videotechnik zugeschaltet werden.
Die Digitalisierung hält im Vollzug Einzug, etwa bei Telemedizin, Verwaltungsakte und Haftraummediensystem.
Mit dem flächendeckenden Einsatz der Telemedizin können wir seit Jahren eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Gefangenen erreichen. Beim Haftraummediensystem handelt es sich um speziell für den Einsatz in Hafträumen konzipierte Computersysteme, die den Gefangenen sichere und kontrollierbare Videotelefonie, E-Mail-Kommunikation und Zugang zu ausgewählten Internetseiten sowie weitere digitale Services bieten. In Ulm und Schwäbisch Gmünd läuft das Pilotprojekt. Um die Digitalisierung im Justizvollzug weiter voranzubringen, wurde im Justizministerium eine Stabsstelle Digitalisierungsstrategie eingerichtet. Eine Aufgabe ist die Einführung elektronischer Akten im Justizvollzug.
Wie steht es um den Nachwuchs?
Wir finden immer noch ausreichend neue Kolleginnen und Kollegen. Die Nachwuchsgewinnung insbesondere im mittleren Vollzugs- und Werkdienst gestaltet sich jedoch zunehmend als herausfordernd. Mit der Kampagne „Im Dienst der Gerechtigkeit“ werben wir aber bereits seit Jahren für die Arbeit „hinter Gittern“. Der Justizvollzug bietet ein interessantes Arbeitsumfeld mit vielen Laufbahnen und Fachrichtungen. Dabei steht das Arbeiten mit Menschen, das Arbeiten in einem Team, im Vordergrund. Der Resozialisierungs- sowie der Sicherheitsauftrag sind prägend für die tägliche Arbeit. Es ist ein schwieriger Auftrag für die Vollzugsbediensteten, bei dem immer das Nähe-Distanz-Verhältnis zu den Gefangenen eine Rolle spielt. Auf der einen Seite muss ich, um Resozialisierung zu ermöglichen, einen Zugang zum Gefangenen bekommen, ein Ansprechpartner sein. Auf der anderen Seite muss ich die Distanz wahren, etwa um Regeln durchzusetzen und um Manipulationen zu verhindern.
Da braucht es viel Empathie.
Definitiv. Und man muss Grenzen setzen. Das ist sehr herausfordernd. Ich muss da eine Lanze für unsere Bediensteten brechen. Sie leisten unter schwierigen Bedingungen außerordentlich viel.
Wird das außerhalb der Gefängnismauern ausreichend wahrgenommen?
D ie Bevölkerung erwartet zu Recht vor allem Sicherheit. Wobei es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann. Zum Beispiel bei Ausführungen von Gefangenen oder bei Vollzugslockerungen bestehen Risiken. Im Justizvollzug geht es bei vielen Entscheidungen um Prognosen: Kann ich Haftlockerungen verantworten? Kann ich dem Gefangenen begleiteten oder gar unbegleiteten Ausgang gewähren? Die Vollzugsanstalten machen es sich bei diesen Entscheidungen nicht leicht. Aber der gesetzlich verankerte Resozialisierungsauftrag verpflichtet zu einer sorgfältigen Überprüfung und einer Risikoabschätzung. Dazu halten uns auch die Gerichte an. Wir dürfen die Gefangenen nicht unvorbereitet entlassen. Das Risiko eines Rückfalls ist bei unvorbereiteten Entlassungen deutlich höher und damit für die Gesellschaft eine größere Gefahr. Deshalb muss die Entlassung sorgfältig vorbereitet werden.
Alles scheint keine Rolle zu spielen, wenn mal etwas schief geht. Etwa wenn ein Gefangener beim Ausgang entweicht.
Die Öffentlichkeit registriert meist nur, dass sich ein Risiko – beispielsweise eine Entweichung bei einer Ausführung – realisiert hat. Dass zuvor eine aufwendige und sorgfältig abgewogene Entscheidung getroffen wurde, interessiert meist nur am Rande. Aber noch einmal: Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht.
Die Resozialisierung spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle.
Ein funktionierender Justizvollzug ist eine Grundlage unseres Rechtsstaats. 99 Prozent der Gefangenen werden nach Verbüßung der Haftstrafe wieder entlassen. Sie sind die Mitbürger oder Nachbarn von morgen. Justizvollzug und die Resozialisierung der Gefangenen sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
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Zur Person
Ministerialdirigent Martin Finckh leitet seit 2015 die Vollzugsabteilung im Ministerium der Justiz und Migration in Baden-Württemberg. Zuvor war er im Justizministerium sechs Jahre für den Haushalt der gesamten Justiz verantwortlich. Davor war er seit 1993 als Zivilrichter in allen Instanzen, davon drei Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, tätig.