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Landespolitik

Ministerpräsidenten: Keiner war länger im Amt als Kretschmann

Zum Ende seiner Ära hat er sogar noch ein Buch geschrieben, über die polit-philosophische Muse Hannah Arendt. Es sind große Fußstapfen, die Winfried Kretschmann als ab 9. August längstdienender baden-württembergischer Ministerpräsident hinterlässt. Er ist aber auch in große getreten.

Festakt zum 75. Geburtstag: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Mitte) mit seinen Amtsvorgängern Günther H. Oettinger (links) und Erwin Teufel.

IMAGO/Arnulf Hettrich)

Stuttgart. Die Ahnenreihe weist eine Besonderheit gleich zu Beginn auf: Nach Gründung des neuen Südweststaats anno 1952 trickste der Liberale Reinhold Mayer die CDU aus und regierte für ein Jahr ganz ohne sie. Den Schlusspunkt unionsgeführter Landesregierungen setzte im Jahr 2011 Amtsinhaber Stefan Mappus, als er am Wahlabend, trotz der aus heutiger Sicht sensationellen 39 Prozent – Fukushima hin und Stuttgart 21 her –, auf jeden Gestaltungsanspruch verzichtete. Mit dem dünnen Vorsprung von 1,1 Prozentpunkten für die SPD durfte ein überwältigter Kretschmann schon in der Nacht seinen historischen Sieg feiern.

Jetzt ist der 77-jährige Kretschmann mit dem markanten, schütter werdenden Bürstenhaarschnitt länger im Amt als alle anderen Ministerpräsidenten vor ihm. Und er kann auf viele Erfolge zurückblicken. Gerade schließt sich ein Kreis: Im Zuge seiner „Politik des Gehörtwerdens“ etablierten sich Foren und Räte aus zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern zur Vermeidung von Konflikten bei strittigen Themen.

Die haben auch Eingang gefunden in den Mitte Juli dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier übergebenen Abschlussbericht der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ als Instrument, „um das Vertrauen in den demokratischen Prozess zu festigen“.

Winfried Kretschmann gewann drei Landtagswahlen für sich

Auf ihre Weise innovativ waren die Hausherren in der Villa Reitzenstein hoch über der Landeshauptstadt ohnehin. Noch ehe es diesen Begriff gab, stemmte Hans Filbinger (CDU) 1967 einen beispiellosen Staatsumbau samt Gebietsreform, versprach „modern denkende, gut organisierte und straff geführte Verwaltung“. 1972 bescherte er seiner Partei die erste Alleinregierung, im Jahr 1978 die quälende Hängepartie um seine Rolle im NS-Regime.

Der Rücktritt sollte noch sehr weite Kreise ziehen. Günther Oettinger (CDU) hielt 2007 eine Trauerrede für Filbinger, in der zwar stimmte, dass der frühere Marinerichter kein vollstrecktes Todesurteil zu verantworten hatte. Viele andere Details rückten den Ministerpräsidenten seit dem Jahr 2006 aber anhaltend in schräges Licht. Als der Druck immer größer wurde, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihn zwei Jahre später zum EU-Kommissar weg und ermöglichte ihm eine beachtliche Karriere in Brüssel.

Lothar Späth wollte Baden-Württemberg an die Spitze aller Bundesländer führen

Zwischen Filbinger und Oettinger amtierten zwei Regierungschefs, auf die sich Kretschmann gerne bezieht, mit unterschiedlichen Ambitionen als Reformer. Lothar Späth wollte Baden-Württemberg an die Spitze aller Bundesländer führen, vor Bayern vor allem, das bis 1986 Nehmerland im Länderfinanzausgleich war, woran die Nachbarn gar nicht gern erinnert wurden. Unvergessen der Spruch: Nach High-Tech müsse High-Culture geschaltet werden.

Nach fast dreizehn Jahren stolperte auch der permanent innovative Späth, unter anderem über rund 500 von Dritten bezahlte Reisen, darunter mehrere Urlaube, etwa auf dem der Affäre den Namen gebenden „Traumschiff“.

Erwin Teufel wiederum versuchte, neben vielem anderen, mit der in der CDU Südbaden erdachten „Grünen Charta“ eine programmatische umweltpolitische Weichenstellung, die in den Jahren der Wiedervereinigung allerdings unterging. Neben unbestrittenen vielen Verdiensten in 13 Jahren verantwortete er die jahrelange Spaltung, weil er nicht die Traute hatte, seine Wunschnachfolgerin Annette Schavan durchzusetzen. Im entzweienden Mitgliederentscheid 2005 unterlag sie Oettinger.

Kretschmanns größter Erfolg ist die veränderte Tonlage

Des Grünen größter Erfolg, der sehr weit in die Zukunft reichen wird, ist neben der veränderten Tonlage („Regieren ist eine Frage des Stils“) und seinen Triumphen bei drei Landtagswahlen, der von ihm 2011 angestoßene neue komplizierte Suchlauf für ein Endlager des deutschen Atommülls.

Misslungen hingegen der Versuch, den Kampf gegen die Erderwärmung aus dem grünen Markenkern heraus zu einem unumstößlich gesamtgesellschaftlichen Thema zu machen, das auch nach radikalen Einschnitten verlangt.

Zweimal ist Kretschmann an der Organisation des Übergangs gescheitert. Schon 2018 hätte er gern Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon etabliert, der aber lehnte ab. Bei den Koalitionsverhandlungen 2021 stimmte die CDU zu, bei einem Stabwechsel auf eine Neuwahlforderung zu verzichten und den Grünen das Ministerpräsidentenamt zu überlassen.

Manuel Hagel und Cem Özdemir wollen Kretschmanns Erbe antreten

CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel kündigte diese Vereinbarung aber auf. Er will im nächsten März Kretschmanns Erbe antreten. Das will Cem Özdemir (Grüne) ebenso. Es passe zu Baden-Württemberg, kommentiert Schavan, die Wahl zwischen zwei respektablen Kandidaten zu haben.

Der in Bälde Scheidende hat jedenfalls schon eine Aufgabe gefunden, die ihm ausgesprochen vertraut ist. Er befasst sich wieder mit Hannah Arendt und den aus ihrem Wirken zu ziehenden Lehren, zum Beispiel zum Thema Unrechtsbewusstsein in der Gesellschaft. „Wenn das erst einmal geschwunden ist“, so Kretschmann, „dann sind wir in einer ganz schlimmen Krise, und wenn man Diktatur und Demokratie nicht mehr spontan auseinanderhalten und bewerten kann, dann ist das ein Alarmsignal erster Güte.“

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