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Interview

Sozialminister Manne Lucha: „Auch ex post war der Corona-Lockdown unverzichtbar“

Im März 2020 hat Sozialminister Manne Lucha (Grüne) erstmals einen Lockdown verhängt. Es folgten zwei Jahre Dauerkrisenmanagement. Wie hat er das erlebt? Wie bewertet der Grünen-Politiker die Maßnahmen, welche Fehler räumt er im Rückblick ein? Im Interview mit dem Staatsanzeiger blickt er ausführlich zurück. Und erzählt, was ihn damals bewegt hat.

Während der Corona-Pandemie musste Sozialminister Manne Lucha teilweise Tag und Nacht als Krisenmanager arbeiten. Das Bild zeigt ihn im Jahr 2022 an seinem Schreibtisch im Ministerium in Stuttgart.

dpa/Bernd Weißbrod)

Herr Lucha, vor fünf Jahren haben Sie den ersten Corona-Lockdown verkündet. Wie haben Sie diese Situation damals erlebt?

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich kam gerade aus Haiti, zehn Jahre nach dem großen Erdbeben war ich dort ehrenamtlich für eine NGO unterwegs. Da trafen Meldungen aus China über eine neue Virusform ein. Direkt danach hatte ich eine Konferenz mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts. Er hat in seiner sanften Eigenart, ohne Hebung und Senkung der Stimmtonalität gesagt: Dieses neue Virus breitet sich langsamer aus als Influenza.

Dann verlief es aber doch schneller …

Ja, dann ging es Schlag auf Schlag. Es gab den ersten baden-württembergischen Covid-19-Patienten in Göppingen. Das war surreal, plötzlich wurden wir mit einer weltweiten Pandemie konfrontiert.

Und in Baden-Württemberg gehörte man mit den Bayern zum „Team Vorsicht“, das besonders strenge Regeln erlassen hat …

Da will ich mit einer Legendenbildung aufräumen. Die Corona-Beschlüsse wurden im Wesentlichen mit ein paar Nuancen von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg und Bayern in allen Bundesländern identisch umgesetzt. Kurioserweise war der bayerische Ministerpräsident immer der Radikalste. Hinterher war er auch der radikalste Kritiker der Verordnung und wollte von seiner rigiden Linie gar nichts mehr wissen.

Auf welcher Grundlage haben Sie die Schulen und Geschäfte geschlossen?

Die ersten gesundheitspolitischen Maßnahmen waren von einer epidemiologischen Grundhaltung geprägt. Wir wussten wenig über das Virus, auch wenn es schon Informationen über Mutationen gab. Die Bilder aus China und später aus Bergamo mit aufgestapelten Särgen auf dem Marktplatz waren uns eine Warnung. Die Virologen haben klar gesagt: Es geht darum, jetzt schnell die Infektionsketten zu durchbrechen. Und die vulnerablen Personen zu schützen.

Warum mussten Schulen und Kindergärten geschlossen werden?

Die ersten Schritte waren Mobilitätsbeschränkungen. Die Schulen standen im Fokus, weil die Schüler die höchste Mobilität haben. An zweiter Stelle standen die Angestellten und Arbeiter in den Firmen. Ich weiß noch genau, wie ich mit Vorständen großer Firmen gesprochen habe. Sie baten mich, dass die Grenzen geschlossen werden, da es je nach Standort sehr viele Grenzübertritte unter den Mitarbeitenden gab. Die Entscheidungen der ersten Welle fielen aber in einem politischen Konsens.

War dieses strikte Vorgehen auch im Nachhinein gesehen berechtigt?

Letztendlich haben wir es geschafft, diese Pandemie, die vermutlich nur noch vergleichbar mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 ist, schnell einzudämmen. Die Wissenschaftler haben uns zahlreiche Infektionswellen vorher gesagt, das Gegenrezept nennt man im Fachjargon „Hammer and Dance“. Alles schließen, die Infektionsrate niedrig halten, wieder öffnen, dann wieder schließen. Zum Glück erlebten wir das Wunder, dass nach nur einem Jahr ein Impfstoff zur Verfügung stand. Durch Impfungen und Restriktionen sind die Todeszahlen niedrig geblieben. Inzwischen gibt es kaum noch Post-Covid-Syndrome, die traten bei den Virusvarianten Delta und Omikron auf.

Es gab zu wenig Impfstoff und Impfskeptiker mit Demonstrationen …

Ich frage Sie mal: Was schätzen Sie denn wie viele Impfstoffdosen wir in Baden-Württemberg bis jetzt Anfang 2025 verimpft haben? Es sind 21,7 Millionen. Die Impfquote war insgesamt hoch, in Norddeutschland über 85 Prozent, In den „südlichen Alpenstaaten“ ist die Impfquote immer niedriger, bei 74,6 Prozent.

Das nächste Drama war die Frage: Wie bekommt man ausreichend Masken?

Unsere Schutzausrüstung war komplett auf die asiatische Produktion ausgerichtet. China hatte Mitte Januar 2020 fünf große Containerschiffe im Pazifik zurückgerufen. Jetzt gab es dramatischen Mangel. Wir erinnern uns an Massenausbrüche nach Karneval im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. In der Klinik dort hat man damals in einer Woche die Schutzausrüstung verbraucht, die sonst für ein ganzes Jahr reicht.

Welche Lehren hat die Landesverwaltung aus der Pandemie gezogen?

Wir haben festgestellt, wie schlecht unsere Schulen digital organisiert waren. Wobei es auch Einrichtungen gab, in denen der Schulleiter von 7 bis 19 Uhr da war, und an denen Schulsozialarbeiter das Lernmaterial mit dem Fahrrad zu den Familien gebracht haben. Auch in der Verwaltung mussten wir lernen, mit Digitalkonferenzen zu arbeiten. Wir haben Faxe in Behörden abgeschafft. Und es gibt als Konsequenz aus der Pandemie gut strukturierte Gesundheitsämter, davon haben wir vorher nur geträumt. Ich wollte vor der Pandemie 117 neue Stellen, bewilligt wurden damals nur 12,5. Inzwischen haben wir auch mit Hilfe von Bundesmitteln rund 700 neue Stellen aufgebaut.

Die Familien haben unter der Schulschließung gelitten, war das nicht rückblickend ein Fehler? Zumal auch Spielplätze geschlossen waren, das haben viele als einschneidend empfunden …

Auch ex post betrachtet war der erste Lockdown unverzichtbar. Allerdings haben wir erkannt, dass sozusagen als Kollateralergebnis die Schließungen oder die Einschränkung der sozialen Kontakte für Kinder und Jugendliche die negativsten Folgen hervorgerufen hat. Die psychologischen langfristigen Folgen haben wir unterschätzt. Der Lernstoff konnte nachgeholt werden, aber nicht die verpassten sozialen Erlebnisse. Der erste Kuss, die Abifahrt, die Theateraufführung, das geht nicht digital. Bei der nächsten Pandemie werden wir sicherlich einen Sonderstab für Kinder und Jugendliche einrichten.

Sie mussten über Leben und Tod entscheiden. Was macht das mit Ihnen, wenn Angehörige sich nicht von ihren Eltern verabschieden können?

Erinnern Sie sich noch an die Bilder von mir während der Pandemie? Ich bin grauer geworden, sah auch ein bisschen eingefallener aus. Du darfst zu keinem Zeitpunkt abstumpfen und musst zu jedem Zeitpunkt rational handlungsfähig und diskursfähig sein. Und man muss streitbar sein. Auch die Opposition hat unser Haus und mich im speziellen mit Anfragen eingedeckt. Das ist ihr gutes Recht, aber mir wurde jede negative Zahl um die Ohren gehauen.Wir dürfen nicht vergessen, es gab 187 000 bestätigte Todesfälle in Deutschland als Folge von Covid 19.

Wie sehr waren Sie persönlich als Krisenmanager gefragt?

Die Landesregierung hat insgesamt 71 Corona-Verordnungen erlassen, 388 Verordnungen von den Ressorts kamen dazu. Ich erinnre mich noch an die Osterfeiertage 2020, die habe ich 24 Stunden am Tag damit verbracht mit den Disponenten in China zu telefonieren. US-Präsident Trump hatte mit viel Geld die letzten Masken vom Markt weggekauft. Nur mit Mühe konnten wir dann doch noch an Kontingente kommen.

Welches Erlebnis ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Wenn mich 80-Jährige händeringend um einen Impftermin bitten, das geht einem schon nahe. Ich weiß noch, wie ich im Landtag in einer hitzigen Debatte persönlich angegriffen wurde. Ich bekomme mittendrin eine SMS, dass die Plomben einer Impfstofflieferung von Biontech aufgegange sind, die Kühlkette war unterbrochen. Man musste alles auf minus 100 Grad transportieren. Gott sei Dank hat sich herausgestellt, dass der Schaden überschaubar war.

Die „Querdenker“ haben viele Impfschäden befürchtet, wie viele gab es?

Es gibt 65 anerkannte Fälle in Baden-Württemberg, in denen eine Herzmuskelentzündung oder Thrombose aufgetreten ist, bei 1409 Anträge, 730 wurden abgelehnt, 501 sind noch nicht abgeschlossen. Das muss man aber in Relation zu 21,7 Millionen und 15 000 Todesfällen durch Covid 19 setzen. Da sehen sie das Risikoverhältnis. Diese Risikoabwägung galt es zu machen.

Das Gespräch führten Michelle Stammet und Rafael Binkowski

Zur Person

Manfred „Manne“ Lucha, geboren 1961 in Garching bei München, hat nach einer Ausbildung zum Chemiewerker und Krankenpfleger Sozialarbeit und Management im Sozial- und Gesundheitswesen studiert. Lucha arbeitete 30 Jahre in der psychiatrischen Versorgung Bodensee-Oberschwaben. Seit 1979 Mitglied der Grünen, zog er 2011 in den Landtag ein und wurde 2016 zum Sozialminister ernannt. Er gewann zwei Mal das Direktmandat in Ravensburg. Lucha hat zwei Kinder und ein Enkelkind.

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