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Der Mehrheit der Leisen eine Stimme geben

Mitglieder des Bürgerrats "Ernährung im Wandel" mit Bärbel Bas, der damaligen Präsidentin des Bundestages. Ihre Nachfolgerin Julia Klöckner will die Stabsstelle auflösen.
dpa/Christophe Gateau)Stuttgart. Er ist der Erfinder der „Politik des Gehörtwerdens“, Baden-Württemberg versteht sich als Modellland für die unterschiedlichen Formen von Bürgerbeteiligung. Deshalb kann Kretschmann nicht verstehen, dass beim Bundestag jetzt ein ganz anderer Weg eingeschlagen werden soll. „Wolfgang Schäuble hat sich seinerzeit aktiv für die Einführung von Bürgerräten eingesetzt“, erinnert der Grüne die rheinland-pfälzische CDU-Politikerin an ihren Parteifreund und Vorgänger.
Schäuble habe die repräsentative Demokratie zu stärken und ihr neue Impulse zu geben wollen. Weil Politik „nicht allein die Angelegenheit von gewählten Volksvertretern und Politikprofis, sondern von uns allen“, betont der Ministerpräsident.
Ziel, einen Konsens über Vorhaben herzustellen
Kretschmann kann sich nicht nur auf Studien stützen, sondern auch auf die Praxis unterschiedlichster Art. Auf Bürgerentscheide oder Bürgerbegehren , geregelt in der Gemeindeordnung, oder auf die gesetzlich vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung, zum Beispiel im Planungsrecht. Und vor allem kümmert sich seit 2023 dauerhaft die Servicestelle Bürgerbeteiligung in Stuttgart um dialogische Verfahren und die Einrichtung freiwilliger Gesprächsrunden zur Meinungsbildung, in denen Argumenten gewogen und Ideen erarbeitet werden – mit dem Ziel, einen Konsens über Vorhaben herzustellen, bei denen Emotionen hochkochen und Lösungswege im Streit versperrt sind.
Zwei zentrale Aufgaben sind ihr übertragen: Die Beratung von Behörden mit Sitz in Baden-Württemberg bei der Bürgerbeteiligung und, zur Entlastung der Zuständigen vor Ort, die Übernahme der Verantwortung fürs Verfahren – beides kostenlos übrigens. „Wir wollen“, sagt die zuständige Staatsrätin Barbara Bosch, „der Mehrheit der Leisen eine Stimme.“
„Entscheidungen werden beschleunigt“
Entwickelt hat sich die Aufgabenstellung aus der Arbeit der Bosch-Vorgängerin Gisela Erler, der ersten Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung. Konkret wurde der Anspruch der „Politik des Gehörtwerdens“ in 170 erfolgreich durchgeführten Konfliktanalysen erfüllt: über Fisch-Artenschutz versus Badevergnügen zum Beispiel, Flächenfraß versus Ärztehaus oder den Umgang mit einer historischen Sporthalle.
Resultat solcher Untersuchungen der Ausgangslage kann auch die Erkenntnis sein, dass eine Bürgerbeteiligung hier nicht das richtige Instrument ist, weil der Knoten in der Verwaltung durchschlagen werden muss. In den meisten Fällen kam es zum Dialog untereinander. „Entscheidungen werden beschleunigt“, sagt der Leiter der Servicestelle, Ulrich Arndt. Nutznießer seien Ämter, Bürgermeister, Gemeinderäte, Abgeordnete und die Gesellschaft insgesamt.
Der Städtetag „schätzt die Arbeit“, wie eine Sprecherin auf Staatsanzeiger-Anfrage sagt, der Landkreistag begrüßt „das Angebot sehr“. Besonders vorteilhaft sei, erklärt Hauptgeschäftsführer Alexis von Komorowski, dass die Servicestelle den interessierten Kommunen einen Dienstleister-Pool zur Verfügung stellt. Auf diese Weise würden die aktuell ohnehin stark geforderten Kommunalverwaltungen im Land entlastet, weil „viele mühevolle Vergabeverfahren entfallen“.
Kommunen können zentrale Vergabestelle nutzen
Arndt wirbt für die Nutzung der Zentralen Vergabestelle. Allen Behörden im Land stehe dank europaweiter Ausschreibung der Dienstleister-Pool vertraglich organisiert zur Verfügung. Auf diese Weise könnten Kommunen und andere öffentliche Stellen unkompliziert Moderatoren und Organisatoren von Beteiligungsverfahren finden.
Und Ministerpräsident Kretschmann appelliert, „das große Ganze“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn: „Ein partizipativer Staat, der die Menschen einlädt und ermuntert, sich politisch einzubringen und selbst aktiv zu werden.“ Es sei in Baden-Württemberg gelungen, einen neuen Politikstil zu verankern, ist sich Kretschmann sicher. Vor allem das Modell der dialogischen Bürgerbeteiligung finde inzwischen Nachahmer in europäischen Nachbarländern und sogar auf EU-Ebene.
Weitere Informationen zur Servicestelle finden Sie hier .
Der Koalitionsvertrag
Nur ein Bürgerrat – zur Ernährung – hat bisher beim Bundestag stattgefunden. International sind große Fragen, Ehe für Alle, Abtreibung oder Sterbehilfe, auf diese Weise im gesellschaftlichen Konsens entschieden worden. Und im Koalitionsvertrag haben sich Union und CDU eigentlich zur Beibehaltung der Instrumente entschlossen: „Ergänzend setzen wir dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages fort.“