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Neutralitätspflicht: Sollten Politiker mehr Beinfreiheit erhalten?

Malte Graßhof ist Präsident des Verwaltungsgerichtshofs und desVerfassungsgerichtshofs in Baden-Württemberg.
dpa/Marijan Murat)Friedrichshafen. Als die Zeppelin-Universität ihr Programm für die öffentlichen Ringvorlesungen über „Populismus, Rechtsextremismus, Wahlen und Demokratie“ im Herbstsemester festzurrte, konnte keiner wissen, dass der Ampelkoalition in Berlin mittendrin der Saft ausgeht. „Uns stehen heiße Wahlen bevor“, prognostiziert Joachim Behnke, Professor für Politikwissenschaften an der privaten Hochschule in Friedrichshafen, der auch den Bundestag bei der Wahlrechtsreform beriet.
Am Abend, bevor sich SPD und Union auf Neuwahlen am 23. Februar einigen, begrüßt der Initiator der elfteiligen Ringvorlesung den ranghöchsten Richter in Baden-Württemberg. Malte Graßhof ist seit einem Jahr nicht nur Präsident des Verwaltungsgerichtshofs im Land, sondern auch des Verfassungsgerichtshofs. Eine „sehr ungewöhnliche“ Kombination, wie Behnke sagt.
Verfassungsgerichtshof entscheidet rund 100 Verfahren im Jahr
Dass Baden-Württemberg neben Parlament und Regierung als dritte Staatsgewalt auch ein eigenes Verfassungsgericht hat, sei wenig bekannt, gesteht Malte Graßhof ein. „Wir sind so etwas wie der kleine Bruder des Bundesverfassungsgerichts“, erklärt der 54-Jährige, dessen Karriere als Proberichter am Amtsgericht in Sigmaringen begann.
In Stuttgart entscheiden er und weitere acht ehrenamtliche Richter in rund 100 Verfahren pro Jahr bei Streitigkeiten zwischen Landtag und Landesregierung, über Verfassungsbeschwerden von Bürgern oder sie prüfen, ob ein Landesgesetz mit der Landesverfassung kollidiert.
Auch wenn die Richter am „Staatsgerichtshof“, wie die Institution bis zum Jahr 2014 hieß, kein rotes Barett tragen wie die Karlsruher Hüter des Grundgesetzes in Karlsruhe , griff Graßhof an diesem Abend symbolisch zum Doktorhut, ist er doch in keiner seiner beiden Richter-Funktionen unterwegs. Es geht um die Pflicht von Amtsträgern zur Neutralität im politischen Meinungskampf, und das kurz vor der nächsten Bundestagswahl.
Grundgesetz verlangt, dass Kanzler, Minister oder auch Bürgermeister Amt und Parteimandat trennen
Das Grundgesetz verlangt, dass Kanzler, Minister oder auch Bürgermeister Amt und Parteimandat trennen, als Amtsträger also nicht parteilich agieren. Die Verfassung regelt, dass Regierende ihre Macht nicht dazu nutzen dürfen, um durch Propaganda Wähler zu beeinflussen und so den Machterhalt zu sichern. Deshalb muss die Öffentlichkeitsarbeit von Staatsorganen sachgerecht und objektiv sein. Statements zugunsten oder zulasten einzelner Parteien sind nicht erlaubt.
Und doch sahen sich die Karlsruher Richter vor zwei Jahren Kritik ausgesetzt, als sie der AfD Recht gaben, Angela Merkel habe ihre Neutralitätspflicht verletzt. Die damalige Kanzlerin hatte im Februar 2020 die Wahl des FDP-Kandidaten zum neuen Ministerpräsidenten in Thüringen als „schlechten Tag für die Demokratie“ bezeichnet, weil die CDU gemeinsam mit der AfD für Thomas Kemmerich gestimmt hatte.
Diese Äußerung sei ein „Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb“, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Für Malte Graßhof folgerichtig, leite sich dieser Richterspruch doch aus Entscheidungen ab, die das Bundesverfassungsgericht seit 1977 in dieser Verfahrenslinie trifft.
Amt und Parteizugehörigkeit werden nicht immer getrennt
Allerdings unterliege diese Rechtsprechung „einer zunehmenden Brisanz“, räumt Graßhof ein. Denn in diesem Verfahren gegen Angela Merkel vertraten erstmals drei von acht Richtern eine andere Meinung, was er als „bemerkenswert“ einstufte. Eine Stimme mehr für die Gegenposition hätte zu keiner Klatsche aus Karlsruhe für Angela Merkel geführt.
Per Sondervotum gab die Richterin am Bundesverfassungsgericht, Astrid Wallrabenstein, zu Protokoll, dass die Kanzlerin ihrer Auffassung nach nicht gegen die Verfassung verstoßen hatte. Regierungsmitglieder würden regelmäßig in ihrer Doppelrolle als Amtsträger und Parteimitglied wahrgenommen, weshalb Bürger von ihnen auch nur begrenzt ein neutrales Verhalten erwarten würden.
Ist die Trennung von Amt und Parteizugehörigkeit heute ein fragwürdiges Ideal? Sollten Politiker mehr Beinfreiheit erhalten? Malte Graßhof hielte das für schwierig. Wohlwissend, dass die Grenzen beispielsweise in Talkshows schnell verschwimmen können. Werde das Wort mit der Autorität des Regierungsamts unterlegt, müssten fragliche Äußerungen jeweils im Einzelfall gewürdigt werden, meint er. Andererseits: „Unsere Politiker sind lernfähig.“ Ihnen gelinge es in den sozialen Medien zum Teil virtuos, getrennt auf privaten und offiziellen Accounts Politik zu machen.
„Die Diskussionen nicht zu aufgeregt führen“ | Staatsanzeiger BW