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Essay

Strafmündigkeit: Kinder früher vor Gericht zu stellen ist nicht zielführend

Es muss darum gehen, Kindern frühzeitig Perspektiven aufzuzeigen und bei Gewalt nicht wegzuschauen. Ein Essay von Stefanie Schlüter. 

Gewalt unter Minderjährigen: Justizministerin Marion Gentges (CDU) hat nun erneut einen Vorstoß unternommen, wissenschaftlich prüfen zu lassen, ab wann bei Kindern mit Strafen reagiert werden kann.

imago images/Gerhard Leber)

Im vergangenen Jahr sollen Kinder im Alter von 12 und 13 Jahren eine Straftatenserie in Bad Waldsee begangenen haben. Eine 13-Jährige hat heißes Wasser aus dem Fenster geschüttet und eine Frau verletzt. Im Zollernalbkreis haben ein 11 und ein 16-Jähriger das Inventar in einer Kirche beschädigt. Diese Fälle haben es in die Medien geschafft. Genauso wie der der beiden 12- und 13-jährigen Mädchen, die 2023 im Siegerland ein anderes Mädchen getötet haben sollen. Oder der Fall von mehreren 12 bis 14-Jährigen, die eine junge Frau vergewaltigt haben.

Diese Fälle sind entsetzlich. Keine Frage. Sie rufen auch regelmäßig reflexartig die Forderung nach härteren Strafen und einer Absenkung des Alters, ab welchem Kinder und Jugendliche sich für ihre Taten vor Gericht verantworten müssen. Derzeit sind in Deutschland, wie auch in vielen anderen EU-Ländern, Kinder erst ab 14 Jahren strafmündig.

Ein Alter, das seit 1923 weitestgehend gilt. Im Dritten Reich wurde es abgesenkt, 1953 wieder auf 14 Jahre festgesetzt. Doch die Festsetzung ist nicht wissenschaftlich begründet. Vielmehr haben früher die meisten mit 14 eine Lehre gemacht oder angefangen zu arbeiten.

Justizministerin Marion Gentges (CDU) hat nun erneut einen Vorstoß unternommen, wissenschaftlich prüfen zu lassen, ab wann bei Kindern mit Strafen reagiert werden kann, diese also strafmündig sind. Mit ihrem ersten Vorstoß war sie in der Justizministerkonferenz gescheitert.

Doch warum hält Gentges eine solche Untersuchung für notwendig? Nach der Polizeistatistik ist die Zahl tatverdächtiger Kinder zuletzt wieder deutlich gestiegen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik in Baden-Württemberg hat für 2023 über 10 610 tatverdächtige Kinder unter 14 Jahren registriert. Vor allem die Gewaltkriminalität hat in dieser Altersgruppe zugenommen. Diese Kinder dürfen allerdings nicht vor Gericht gestellt werden, ganz egal, wie schwer die Straftat ist, die sie verübt haben. Gentges argumentiert, dass es naiv sei, zu glauben, dass ein Kind, das mit zehn oder zwölf Jahren Gewalttaten begehe, dieses Verhalten mit 14 Jahren nicht mehr zeigen werde. Damit hat sie sicher recht. Doch nach Ansicht von Jugendpsychologen und von vielen Richtern tragen Strafen meist nicht dazu bei, junge Menschen wieder auf den richtigen Weg zu führen. Das gilt nicht zuletzt auch für Kinder, die immer wieder straffällig werden. Im Gefängnis kommen Jugendliche oft erst recht auf die schiefe Bahn. Nicht umsonst ist auch das Jugendstrafrecht in Deutschland vom Erziehungsgedanken geprägt. Der nicht zuletzt in Baden-Württemberg mit den Häusern des Jugendrechts auch umgesetzt wird.

Zunehmende Gewalttaten und andere Straftaten bei Kindern und Jugendlichen sind mit Sicherheit ein Warnsignal. Das sollte man auch auf keinen Fall übersehen oder herunterspielen. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein Herabsetzen der Altersgrenze, ab der Kinder vor Gericht gestellt werden könnten, wirklich zielführend ist. Denn damit würden auch all die Kinder kriminalisiert, die möglicherweise als Mutprobe mal Süßigkeiten im Supermarkt mitgehen lassen. Das kann niemand wollen.

Bereits heute können Jugendämter über das Familien- und Jugendhilferecht bei Unter-14-Jährigen eingreifen, wenn diese auf die schiefe Bahn geraten. Die Palette reicht von Ansprache an Kinder und deren Eltern über Sozialstunden bis hin zur Heimunterbringung und der Entziehung des Sorgerechts der Eltern. Aber die Maßnahmen sind in der Regel Reaktionen auf bereits begangene Taten. Sinnvoll wäre es, zusätzlich viel früher bei der Prävention anzusetzen. Denn wer Perspektiven hat, gerät in der Regel auch nicht so schnell auf die schiefe Bahn. Allerdings muss man sich auch klar machen: Alle Fälle wird man nie verhindern können.

Nach Untersuchungen kommen viele der Kinder, die kriminelle Taten begehen, aus disfunktionalen Familien. Sie haben oft selbst Gewalt erfahren, haben Erfahrungen mit Drogen oder Alkohol. Mehr Strafrecht wird in diesen Fällen nicht weniger Kriminalität bedeuten. Im Gegenteil. Eine Verurteilung kann zur Anerkennung innerhalb einer Gang führen. Auch der Blick in die USA oder nach Großbritannien zeigt, dass eine frühere Strafmündigkeit von Kindern nicht zu weniger Kriminalität führt. Vielmehr sollte der Staat darauf achten, dass Kinder nicht auf der Strecke bleiben, Bildung, Hilfen und Lebensperspektiven haben. Und das bedeutet auch mehr Investitionen in Kitas, Schulen und Sozialarbeit.

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