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Wenn Cem Özdemir mit dem Mountainbike im Wald ist

Cem Özdemir mit dem Aalener Oberbürgermeister Frederick Brütting (SPD) auf einem Mountainbike-Trail.
Rafael Binkowski)Schwäbisch Gmünd. Es ist ein wolkenverhangener Morgen auf der Ostalb. Die Sonne lugt kaum zwischen den Wolken hervor. Und dennoch scheint die Landschaft auf dem riesigen Areal des Weleda-Logistikzentrums irgendwie zu strahlen. Blumen blühen auf dem Gelände des anthroposophischen Kosmetikherstellers, es herrscht fast Stille. Dass von hier aus weltweit Weleda-Waren versandt werden, ahnt man nicht.
Und mittendrin: Cem Özdemir. Einen passenderen Platz könnte es für einen grünen Anwärter auf die Nachfolge von Winfried Kretschmann kaum geben. Der Kandidat beginnt mit einer Anekdote: „Ich wache morgens mit Weleda Rasierwasser auf und schlafe abends mit Weleda Gesichtscreme ein.“ Alle lachen, das Eis ist schnell gebrochen.
Bei Weleda hat Özdemir ein Heimspiel
Das Weleda-Logistikzentrum ist so nachhaltig erbaut, wie es nur sein kann. „Nur am Sockel gibt es eine Betonwand, darauf ist eine Lehmwand gesetzt“, erzählt die Bauleiterin Daniela Trah. Der Rest ist aus Holz. Und das riecht man schon, wenn man das voll automatisierte Hochregallager betritt. 30 Meter hoch türmen sich hier auf 16.000 Lagerplätzen Weleda-Waren, deckenhohe Fahrzeuge gleiten wie durch Geisterhand durch die Halle.
Der Kandidat lockert die Stimmung mit Scherzen auf
Özdemir staunt und ist sichtlich beeindruckt von dieser Kulisse und macht einen weiteren Scherz, als sich eines der Geräte nicht bewegt: „Der isch in der Gewerkschaft.“
Der Verwaltungsratspräsident von Weleda, Thomas Jorberg, schmunzelt und sagt zu diesem riesigen Gelände mit den nachhaltigen Bauten: „Kurzfristig war das teurer, langfristig ist es aber günstiger.“ Das passt natürlich zu Cem Özdemirs Botschaft, mit der er in diesem Sommer durchs Land reist.
Nach dem Kurzurlaub startet der Kandidat voll durch
Nach einem kurzen Urlaub stürzt er sich wieder voll in den Wahlkampf. Termin folgt auf Termin, er reist durch das Land, besucht Unternehmer, Vereine, Mittelständler oder Gewerkschaften. Die Grünen im Südwesten setzen ganz auf den Faktor Ö wie Özdemir. Jeder kennt ihn, und im Dialog gibt er sich als menschnaher, pragmatischer Macher. „Wer Özdemir will, muss Grüne wählen“, sagt er später auf der Fahrt. Die nächste Station bei der Holzbaufirma Maier in Westhausen im Ostalbkreis zahlt genau darauf ein.
Mehr zum Duell Hagel gegen Özdemir hier.
„Schön, dass sich Grüne das Handwerk anschauen“, frotzelt der Geschäftsführer der Handwerkskammer Ulm, Tobias Mehlich, als der 59-Jährige aus dem Auto aussteigt. Der Ex-Agrarminister, Ex-Grünenparteichef und Ex-Europaabgeordnete schmunzelt: „Das mache ich tatsächlich ziemlich häufig.“
Dialog mit Handwerkern ist wichtig für die Grünen
Seit 1935 gibt es das Familienunternehmen, Katja Maier führt es in dritter Generation und ist zudem Kammerpräsidentin. „Wir haben seit zwei Jahren einen Schub bei der Nachfrage“, sagt sie. Das Geschäft brummt, im wahrsten Sinne des Wortes. An der Straße liegen aufeinander gestapelte Baumstämme, die ins Sägewerk gebracht und dort von Azubis zu Brettern gesägt werden.
Auch dieser Termin mit dem nachhaltigen Baustoff Holz passt zur Agenda von Cem Özdemir. Der Grünen-Politiker bestaunt ein Tiny House, zu dem Katja Maier sagt: „Erfunden wurde das nicht in Stuttgart, sondern auf der Ostalb.“
Lesen Sie hier die Nominierung von Cem Özdemir
Dann soll Özdemir einen Nagel einbohren. „Bitte gebt mir was, wo sich niemand verletzt“, lacht der aus Bad Urach stammende Spitzenkandidat. Es gelingt, Prüfung bestanden.
Der Kandidat hört viel zu, will die Sorgen der Handwerker ernstnehmen. Mit Humor, Selbstironie und einem guten Gespür für Themen kann er selbst in Zielgruppen punkten, die nicht per se der Ökopartei zugeneigt sind. Ob ihn die Handwerker deswegen wählen? Zumindest ist der Dialog begonnen. Oder fortgesetzt, denn genau das war ja das Erfolgsrezept in 14 Jahren Regentschaft von Winfried Kretschmann: Das bürgerliche Milieu erobern, das früher geschlossen CDU gewählt hat.
Nur einmal wird Kontrahent Manuel Hagel erwähnt
Seinen Kontrahenten Manuel Hagel erwähnt er nur beiläufig: „Ich kann mir gut vorstellen, dass Manuel Hagel in ein Kabinett Özdemir eintritt und Erfahrungen sammelt.“ Ein kleiner Seitenhieb, der den Erfahrungsvorsprung gegenüber dem 36-jährigen Gegenspieler thematisiert.
Es geht weiter nach Aalen. Der dortige OB Frederick Brütting ist nicht nur Sozialdemokrat, sondern auch passionierter Mountainbiker. Aalen hat daher zwei städtische Mountainbike-Beauftragte, und Brütting wartet nun mit gelber Funktionskleidung auf den Spitzenkandidaten.
Das erste Rededuell zwischen Hagel und Özdemir
Özdemir ist selbst begeisterter Radfahrer, kam sogar als Minister in Berlin oft mit dem Drahtesel. „Das ist wichtig für die Gesundheit“, sagt er. Der zweifache Familienvater steigt selbst aufs Rad, nach einer kurzen Probephase düst er mit Helm und Handschuhen durch den Wald, über Stock und Stein. „Das war krass, und es macht richtig Spaß“, sagt er dann, leicht außer Atem, „ich fahre ja viel Rad, aber nicht so.“ Weil es so schön war, gibt es gleich noch eine zweite Runde. Voller Körpereinsatz also.
Im Bürgerdialog zeigt sich der Kandidat treffsicher
Als später im Aalener Limesmuseum die Leiterin Julia Datow-Ensling mit viel Engagement die ganze römische Geschichte erklärt, ist dem Kandidaten nach zehn Stunden Tour eine gewisse Müdigkeit anzumerken. Doch selbst jetzt bleibt er konzentriert und fragt interessiert nach.
Dann geht es wenige Meter hinüber in die Aalener Stadthalle, 200 Bürger sind gekommen zum Format „Auf ein Bier mit Özdemir“. Und das meint er wörtlich: Es steht kein Bier auf seinem Tisch, der 59-Jährige fragt: „Wie heißt die Veranstaltung?“
Das Bier kommt. Jetzt läuft Özdemir zu Hochform auf, spricht über die Polizeisoftware Palantir, den Automobilstandort Südwesten, Bildung, Datenschutz, Veganismus, Bürokratie, Atomkraft oder Windräder.
Am Ende übergibt ihm der Ellwanger Bürgermeister Volker Grab einen Schirm für die geplante Landesgartenschau 2026 in seiner Heimatstadt: „Damit du zur Eröffnung als Ministerpräsident kommst.“ Lautstarker Applaus. Zumindest an diesem Tag sind Özdemir die Herzen gleich serienweise zugeflogen.
Der grüne Kandidat
Cem Özdemir, 1965 in Bad Urach geboren, ist ein Schwabe mit türkischen Wurzeln. Nach einer Ausbildung zum Erzieher studierte er Sozialpädagogik. 1994 zog er als einer der ersten Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund ins Parlament ein. Nach der Bonusmeilen-Affäre wechselte er ins EU-Parlament. Von 2008 bis 2018 war er Bundesvorsitzender der Grünen, für die Partei eine ungewöhnliche lange Zeit. Ab Dezember 2021 war er Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft im Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz. Im Frühjahr wurde er mit 97 Prozent zum Spitzenkandidaten der Grünen in Baden-Württemberg gewählt und will Kretschmann nachfolgen.