Debatten im Landtag vom 4. und 5. Februar 2015

Kultusminister will Zahl der Sitzenbleiber verringern

Stuttgart. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) will die Zahl der Sitzenbleiber an den weiterführenden Schulen verringern. Zum kommenden Schuljahr würden die Poolstunden an den Realschulen von bisher 2,2 auf 6 aufgestockt, kündigte der SPD-Politiker am Mittwoch im Landtag an. Er wolle damit erreichen, dass die Realschulen weiter entwickelt werden und die Schulen auf den Bedarf ihrer […]

Stuttgart. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) will die Zahl der Sitzenbleiber an den weiterführenden Schulen verringern. Zum kommenden Schuljahr würden die Poolstunden an den Realschulen von bisher 2,2 auf 6 aufgestockt, kündigte der SPD-Politiker am Mittwoch im Landtag an. Er wolle damit erreichen, dass die Realschulen weiter entwickelt werden und die Schulen auf den Bedarf ihrer Schüler reagieren können. Für den Minister steht die steigende Zahl der Wiederholer an Realschulen und Gymnasien jedoch nicht im Zusammenhang mit der von Grün-Rot abgeschafften verpflichtenden Grundschulempfehlung. Er begründete seine Meinung mit einem Beispiel aus dem Schulamtsbezirk Stuttgart; dort seien die Nichtversetzer bei Klasse 9 stark angestiegen. „Dies hat nichts mit der Grundschulempfehlung zu tun“, erklärte Stoch.
Der Minister sieht durch den Wegfall der Grundschulempfehlung sogar eine „Versachlichung“ an den Grundschulen. Teilweise seien die Übergänge sogar niedriger als vorher. Früher sei die Stimmung aufgeregt gewesen, wenn die Verbindlichkeit in Klasse 4 anstand, berichtete er. Stoch ist davon überzeugt, dass sich die Frage, wie Eltern mit der neuen Situation und der freien Wahl der weiterführenden Schule für ihre Kinder umgehen, relativieren werde. „Wir wollen den Eltern die Angst nehmen“, sagte er. Gleichwohl möchte der Minister eine Systematik schaffen und bereits zum kommenden Schuljahr eine „konkrete Lernstandserhebung“ in den fünften Klassen einführen. Schwächere Schüler sollen individuell in den Klassen 5 und 6 gefördert werden. Außerdem werde die Beratung der Eltern an Grundschulen ausgebaut.

Wacker: Abschaffung der Grundschulempfehlung stellt Schulen vor Probleme

Trotz massiver Forderungen der CDU äußerte sich Stoch nicht konkret zu den Deputatserhöhungen an Realschulen. Der CDU-Bildungsexperte Georg Wacker konfrontierte den Minister mit seiner früheren Ankündigung, 500 neue Deputate an Realschulen zu schaffen, sowie einem Zeitungsbericht, wonach die Rede von nur 350 neuen Deputate gewesen ist. Durch die überhastete Abschaffung der Grundschulempfehlung habe Grün-Rot die Schulen vor Probleme gestellt und ein Chaos durch die vielen Sitzenbleiber verursacht, kritisierte Wacker. „Die Realschulen brauchen Differenzierung statt spätere Abschulung“, betonte er. Von 2011 habe sich die Zahl der Sitzenbleiber in der fünften Klasse von 0,7 auf 4,4 Prozent versechsfacht. Ähnlich sei die Lage an den Gymnasien. Wacker forderte eine vernünftige Eingangs- und Leistungsdiagnose sowie Beratungskonzepte von Klasse 1 an. Die weiterführenden Schulen müssten ab der fünften Klasse unterstützt werden.
Sandra Boser (Grüne) stimmte Wacker in einem Punkt zu: „Wir brauchen ein qualifiziertes Beratungssystem.“ Mehr Gemeinsamkeiten gab es jedoch nicht. Boser erinnerte darin, dass früher die Eltern von Dritt- und Viertklässlern diese mit Nachhilfe getrimmt hätten, damit diese in die Realschule oder aufs Gymnasium kommen. Grün-Rot aber stelle durch Abschaffung der Empfehlung den Elternwillen in den Vordergrund. Zudem seien in den Gemeinschaftsschulen alle verschiedenen Abschlüsse möglich. Bereits heute hätten Realschulen und Gymnasium die Möglichkeit für Lernstandserhebungen.
Auch Gerhard Kleinböck (SPD)  verteidigte die Abschaffung; dadurch laste viel weniger Druck auf den Grundschülern. Früher sei Baden-Württemberg Spitzenreiter in der Nachhilfe gewesen. „Wir haben eine Ungerechtigkeit im Bildungssystem beseitigt“, sagte er. Die SPD nehme die Wiederholerzahlen ernst und habe den Anstieg der Nicht-Versetzten in Klasse 5 registriert.
Kritik kam auch von Timm Kern (FDP). Er äußerte sich entsetzt darüber, „wie locker die Regierungsfraktionen über die dramatische Situation hinweggehen.“ Es sei für Kinder, die sich freuen, endlich auf eine weiterbildende Schule zu gehen,  verheerend, von Lehrern mit schlechten Nachrichten und Noten konfrontiert werden. „Kinder leiden unter dem Tiefschlaf von Grün-Rot“, sagte der FDP-Bildungsexperte und nahm die Regierung in die Pflicht: „Sie tragen die Verantwortung für diese Situation.“ Ein weiteres Aussitzen der Probleme verbiete sich, stellte Kern fest und forderte Verlässlichkeit und Planbarkeit durch Beratung an Grundschulen, Einblick in die Grundschul-Empfehlung und Stützkurs-Angebote.

GEW fordert sachlichen Umgang mit Thema Sitzenbleiben

Die Bildungsgewerkschaft GEW setzt sich für einen sachlichen Umgang mit dem Thema Sitzenbleiben ein und verlangt mehr Unterstützung vor allem für die Realschulen. „Auch wenn die Sitzenbleiber-Quote in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken ist, ist jedes Kind, das eine Klasse wiederholen muss, ein Sitzenbleiber zu viel. So wie Eltern ihre Kinder nicht überfordern sollten, brauchen die weiterführenden Schulen mehr Unterstützung, um die Kinder dort abholen zu können, wo sie stehen und um sie besser individuell unterstützen können, wie dies die Gemeinschaftsschulen bereits praktizieren“ sagte Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Die GEW verweist darauf, dass der Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung der richtige Schritt war und auf große Akzeptanz bei Eltern und Lehrkräften stößt. „Dies bedeutet eine große Entlastung für die Grundschulen. Auch für die Realschulen hat Kultusminister Andreas Stoch mit der künftigen Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 die Weichen richtig gestellt. In den weiteren Jahrgängen wird die Entscheidung für den Hauptschul- oder Realschulabschluss im Interesse der Schülerinnen und Schüler möglichst lange offen gelassen. Für diese anspruchsvolle Aufgabe brauchen die Lehrkräfte an den Realschulen nachhaltige Unterstützung. Die vorgesehenen 500 Deputate sind zu wenig“, sagte Moritz.
Den Antrag der CDU, die aufnehmenden Schulen über die Grundschulempfehlung zu informieren, lehnte die grün-rote Koalition ab. Dafür beschloss der Landtag, das Kultusministerium mit einer Studie zur Frage zu beauftragen, ob ein Zusammenhang zwischen erhöhten Übergangszahlen auf Realschulen und Gymnasien und der wachsenden Sitzenbleiberquote besteht.

Quelle/Autor: Wolf Günthner

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